Werkstattbericht zum Entwicklungsprozess des digitalen Spiels „Meine Oma (88)“

Einblicke in die Entwicklung eines Games mit erinnerungskulturellem Anspruch.

Alexander Zenker
Veröffentlicht am 7. August 2024

Wo kommen wir her? 

Mein Name ist Alexander Zenker, ich bin Gamedirector und Game-Artist im Studio ROTxBLAU. Ich wohne in Leipzig, Deutschland und habe hier mit meinen beiden Kollegen Michael Zöller und Richard Minkus vor drei Jahren ein Game-Studio gegründet. Als Team ist es unser Ziel, Spiele als Kunst- und Kulturgut zu entwickeln, die sich aktiv mit ihrer Umwelt und der gegenwärtigen Gesellschaft auseinandersetzen und dennoch einen Schwerpunkt auf Unterhaltung legen. Im Fall von „Meine Oma(88)“ beschäftigen wir uns mit dem Schweigen in unseren Familien, sobald es um die Themen Nazi-Deutschland, Nazi-Verbrechen und Täter*innenschaft geht. Ich höre immer wieder: „Lasst die Geschichte doch endlich ruhen.“ – doch spätestens mit der Untersuchung des Phänomens der transgenerationalen Weitergabe wird klar, dass selbst durch Schweigen Verhalten und Werte weitergegeben werden – in Opfer- wie in Täter*innenfamilien. Deshalb müssen wir uns fragen, wie sehr haben wir aus den Verbrechen unserer Vorfahren gelernt, wenn wir es nicht schaffen in den eigenen Familien darüber zu sprechen? Wie sehr sind wir vielleicht selbst noch von Nazi-Ideologien geprägt, ohne ein Bewusstsein darüber zu haben? 

Wir wollen ein Spiel entwickeln, welches diese Fragen aufwirft und Schweigen als Herausforderung in der Game-Mechanik etabliert. Damit wollen wir uns selbst befragen und hoffentlich auch die Spielenden dazu inspirieren, sich mehr mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen – egal ob in Deutschland oder anderswo, denn dunkle Geheimnisse werden schnell verschwiegen und sind uns allen dennoch stets bewusst. 

„Erinnern mit Games“ 

Alles begann mit einem Pitch-Jam im Jahr 2020, einem Online Event der Stiftung Digitale Spielekultur. Das Thema des Pitch-Jams lautete „Erinnern mit Games“ und brachte Menschen aus den Bereichen Games und Erinnerungskultur zusammen, um neue Spielideen zu entwickeln. In einem achtköpfigen Team, bunt zusammengewürfelt von Personen aus Österreich und verschiedensten deutschen Bundesländern entwickelten wir ein Pitch-Video für ein fiktives Spiel namens This Memory of Mine. Die Handlung drehte sich um eine Enkeltochter, die gegen die Erzählungen ihrer eigenen Oma handeln muss, angelehnt an das Spielprinzip „Player vs. Narrator“ aus dem Game The Stanley Parable. Unser Projekt überzeugte die Jury, und gemeinsam mit einem anderen Team, das mit ihrem Projekt Peloton ebenfalls gewann, sicherten wir uns den Sieg beim Pitch-Jam. Da ich der einzige Game-Entwickler im Team war, wurde unser Studio ROTxBLAU mit der Verantwortung für die Umsetzung des Spiels betraut und wir erhielten als Preis eine professionelle Beratung, um unsere Idee zu realisieren. 

Alles aus Papier 

Nach unserem Erfolg beim Pitch-Jam, erarbeiteten wir gemeinsam ein detailliertes Konzept für eine Bewerbung bei der Mitteldeutschen Medienförderung, um die Entwicklung eines Prototyps finanzieren zu können. Ein Jahr später erhielten wir schließlich die erhoffte Förderung und das Projekt startete im Frühling 2022, etwa zwei Jahre nach dem Pitch-Jam. 

Zuerst entwickelten wir drei Versionen eines Papierprototyps – eine Brettspiel-Variante des finalen Computerspiels mit einzelnen Spielfeldern und -figuren. Alle Figuren waren simpel auf Papier gezeichnet und ausgeschnitten, die Spielregeln waren nur grob entworfen. Als „Spielleiter“ testete ich diese Prototypen von Anfang an mit verschiedenen Menschen und entwickelte das Game-Konzept anhand ihrer Reaktionen und Ideen über drei Monate weiter. In dieser Phase entstand auch ein neuer Name, der auf so viel positive Resonanz stieß, dass wir ihn bis heute beibehalten haben: Meine Oma(88). Neben den Spiel-Sessions dokumentierte ich per Kamera jede Partie, um sie als Leitplanken in der späteren Entwicklung nutzen zu können. 

Das Feedback der ersten Testings war durchweg positiv: Die Spielenden hatten großen Spaß, tauchten sofort in die Geschichte und die Spielwelt ein und waren neugierig alles zu entdecken. Der Prototyp kombinierte Point-and-Click-Elemente, die Entscheidungsfreiheiten eines Sandbox-Spiels(=ein Spielelement, das den Spieler*innen ein hohes Maß an Kreativität bei der Interaktion zulässt) und der Mechanik Player vs. Narrator. Diese Mischung führte zu aufregenden, überraschenden, irritierenden, gruseligen und witzigen Momenten. Bis hierher funktionierte der Prototyp bereits als Unterhaltungsspiel. Einzig die Langzeitmotivation war noch nicht ausreichend, was wir vorerst als Problem aufgeschoben haben und später in der digitalen Version lösen wollten. 

Digitalisierung für Publisher 

Im Sommer 2022 begannen wir mit der Digitalisierung unseres Projekts Meine Oma(88) und hier begann nun die wahre Odyssee. Das Ziel war „nur“ alles, was im Papierprototyp funktioniert hatte, in eine digitale Version zu übertragen. Unser Coder Michael Zöller entwickelte dafür ein cleveres Tool namens Omatools, das uns ermöglichte, schnell und flexibel alle möglichen Interaktionen zwischen den Spielobjekten umzusetzen. Die erste digitale Version spiegelte fast alle Features und Inhalte des Papierprototyps wider und mit der zweiten Version ergänzten wir dann noch die fehlenden Elemente. Die Grafiken übernahmen wir direkt aus den analogen Vorgängern und ergänzten sie mit einer einfachen grafischen Benutzeroberfläche. Mit wenig Aufwand hatten wir nun also ein Spiel aus schwarzweißen Strichfiguren vor uns, das vorerst komplett ohne Animation und Effekte auskommen sollte. 

Die „fertige“ Version des Prototyps präsentierten wir unserem damaligen Mentor, einem alten Hasen der Games-Branche, der bis heute für einen großen europäischen Publisher arbeitet. Er sollte uns durch sein Feedback darauf vorbereiten, in Publisher-Gespräche zu gehen und eine Finanzierung für die Produktionsphase zu finden. Doch seine Kritik war alles andere als wegbereitend: zu billige Grafiken, zu viele Spielinhalte, die er nicht entdecken konnte, und ein unverständlicher Gameplay-Loop. Diese Rückmeldung kam im Frühling 2023, ein Jahr nach Beginn des Prototyps – und die finanzierte Phase der Förderung war längst abgelaufen. Unser Mentor schickte uns also nochmal in die Ehrenrunde und machte uns deutlich, dass ein Publisher wenig Interesse an einem so „risikobehafteten“ Spiel in diesem Stand haben würde. 

In jenem Frühling ging es unserer Firma nicht gut. Alle erwarteten Aufträge neben „Oma“ (internes Lieblingskürzel) sprangen ab und plötzlich hatten wir nur noch dieses Spiel, auf das wir setzen konnten. Also gingen wir das Risiko ein und machten uns ohne Aussicht auf Bezahlung auf die Suche nach Geldgebern. Als Deadline für die Suche setzten wir uns den Dezember 2023. Danach müssten wir die Firma schließen, wenn wir bis dahin keine Finanzierung gefunden hätten. Durch einen Kontakt aus dem ursprünglichen Team des Pitch-Jams 2020 kamen wir mit einer privaten Stiftung in Kontakt, deren Ziel die Unterstützung deutscher Erinnerungskultur ist und die nach einem Spielprojekt suchte, das sich mit dem Thema der Erinnerungskultur auseinandersetzte und gleichzeitig den kommerziellen Weg eines Videospiels gehen wollte – das waren genau die Ziele die wir auch verfolgten! Es war unsere Rettung, wir kamen ins Gespräch mit der Stiftung und es funkte direkt. Mit der Zusammenarbeit ab August 2023, konnte sogar eine Gedenkstätte als Partner hinzugewonnen werden, um eine inhaltliche Expertise für die historischen Hintergründe der Spielgeschichte zu gewährleisten. 

Gemeinsam mit der Gedenkstätte schrieben wir einen Antrag, um die Fördersumme der Stiftung zu erhalten – ein Prozess, der drei Monate dauerte und Mitte Dezember 2023 abgeschlossen wurde – glücklicherweise genau zu unserer Deadline! Mit einer Zusage der Finanzierung konnte uns die Stiftung bestätigen, dass die Arbeit an „Meine Oma(88)“ im Februar 2024 starten konnte! Wir hatten die Finanzierung unserer Produktion gesichert. Die Deadline war eingehalten, wir konnten also endlich mit der finalen Umsetzung des Projekts beginnen. 

In den drei Monate der Antragsausarbeitung arbeitete ich stetig weiter am  digitalen Prototypen. Mit einem Showcase auf der Gamescom 2023, ersten Gesprächen mit Publishern und weiteren Testphasen entwickelte sich das Spiel noch einmal komplett neu. Ich wollte vorbereitet sein auf die Produktion, die nun im Februar 2024 starten sollte. Wir begannen schon mit ersten Bewerbungsgesprächen, unterschrieben Arbeitsverträge und führten emsig Gespräche mit weiteren zukünftigen Kooperationspartner*innen. Die zwei Monate über der eigentlichen Deadline im Dezember waren akzeptabel, denn nun sollten wir eine zweijährige Vollzeit-Produktion bezahlt bekommen! Das Warten hatte sich gelohnt! Doch dann kam alles anders… 

Rückschläge und neue Hoffnung 

Im Februar 2024, kurz vor der Vertragsunterzeichnung und dem Projektstart, geriet alles aus den Fugen. Der Antrag enthielt juristische Fehler, von denen niemand wusste, außer die Anwälte der Stiftung. Sie stellten plötzlich neue Anforderungen, die so schnell nicht zu erfüllen waren. Dafür hatte die Gedenkstätte keine Zeit eingeplant und sprang kurzfristig ab. Dadurch konnte die Stiftung den Vertrag nicht mehr unterzeichnen und das gesamte Projekt fuhr gegen die Wand. Die Zukunft von „Oma“ stand plötzlich auf der Kippe. 

Voller Sorge gingen wir in interne und externe Gespräche, berieten uns und mussten abwägen, ob wir als Firma noch weitere Monate ausharren konnten, um eine neue Gedenkstätte zu finden und die Vertragsbedingungen neu auszuhandeln – ein Prozess, der ungewiss lange dauern könnte. Das einzig Gute war, dass das Geld der Stiftung intern bereits bewilligt war und auf uns wartete; wir mussten nur den Zugang wieder dazu freiräumen.  

Dieser Crash war vor vier Monaten. Seither haben wir die Zeit intensiv genutzt. Auch wenn wir uns inzwischen hoch verschuldeten, haben wir mit der Unterstützung vieler Mitmenschen weitergearbeitet: Der Prototyp hat nun ungefähr sieben Versionen durchlaufen und wurde kontinuierlich weiter verbessert. Wir haben eine neue Gedenkstätte gefunden und konnten uns bisher gut auf alle Bedingungen einigen und gemeinsam die Vertragsvoraussetzungen für die Stiftung integrieren. Damit sind wir schonmal einen Schritt weiter, als bei der ersten Antragsstellung. 

Gerade jetzt in diesem Moment – im Juni 2024 – warten wir erneut auf eine Antwort, um eine neue Vertragsunterzeichnung zu vereinbaren. Wie lange der Prozess noch dauern wird, wissen wir nicht, doch wir sind immer noch entschlossen, auch wenn unsere Kräfte im Team längst aufgebraucht scheinen. Der aktuelle Projektbeginn zum 01.09.2024 wurde erst diese Woche wieder um einen Monat nach hinten verschoben – ein weiterer Monat, den wir spontan kaum mit Aufträgen oder anderen Einnahmen füllen können. Wir drücken die Daumen und hoffen, dass wir zumindest diesen Dezember endlich die Produktion bezahlt bekommen, die vor nun vier Jahren ihren Anfang nahm. 

Doch was haben wir nun daraus gelernt? 

Warum wir dennoch weitermachen 

Trotz der Rückschläge und unserer prekären Situation, wurden wir immer wieder motiviert, nicht aufzuhören. In der Auseinandersetzung mit anderen Personen, bekamen wir stets gespiegelt, dass wir auf dem richtigen Weg seien. Die schönsten und überraschendsten Erfahrungen auf unserer vierjährigen Reise waren wohl die zahlreichen Papierprototyp-Sessions und die ersten Reaktionen der Spieler*innen. Besonders in Erinnerung geblieben ist uns dabei die Gruppe aus Jugendlichen im Alter von 11 bis 13 Jahren, die unser Studio im Rahmen eines Ferienprogramms in Leipzig besuchten. Obwohl wir „Oma“ nicht für so eine junge Zielgruppe konzipiert hatten, testeten die jungen Menschen begeistert und eifrig unseren Prototyp, rätselten miteinander und trafen gemeinsam Entscheidungen. 

Ebenso positiv erwähnt sei, dass unsere Arbeit von verschiedenen Expert*innen als wertvoll für die deutsche Erinnerungskultur eingeschätzt wurde – ob aus der Traumaforschung (die sich mit Familien von NS-Täter*innen beschäftigt), der Literatur oder der pädagogischen Arbeit an Gedenkstätten – die Rückmeldungen waren durchweg positiv. Sie hoben hervor, dass unser Spiel zur Selbstreflexion anregt, was genau das Richtige für die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte sei. 

Darüber hinaus erfuhren wir Begeisterung und Unterstützung aus vielen Ländern. Unsere Teilnahme an Podiumsdiskussionen nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA, Mexiko und Hongkong zeigte uns, dass das Thema international von Interesse ist und unabhängig von der deutschen Geschichte betrachtet werden kann. Besonders stolz sind wir auf den Preis, den wir beim Pitch-Jam der Stiftung Digitale Spielekultur gewonnen haben. Dieser Sieg war der Startschuss für unsere wahnsinnige Unternehmung, die uns bis heute elektrisiert, herausfordert und weiterbringt. 

 Alles in allem bin ich überwältigt von diesem wahnsinnigen Vorhaben und beeindruckt davon, wie sich immer neue Wege erschließen, wenn man nur dranbleibt. So lang unsere Vision, von einem markttauglichen Videospiel welches die Sicht auf Erinnerungskultur revolutionieren möchte, besteht, wird dieses Projekt immer weiterwachsen, egal wie viele Steine uns noch im Weg liegen werden. 

Ich bleibe voller Hoffnung 

Und wünsche alle wahnwitzigen Vorhaben da draußen maximale Erfolge! 

Bleibt dran! 

Einen schönen Tag 

wünscht 

Alexander Zenker 

ROTxBLAU 

Unsere Learnings

  • Nutzung und externe Spieletests von Papierprototypen bringt für die Anfangsphase enorm viel

    Während unseres Projekts haben wir viele wertvolle Lektionen gelernt, die in unserer zukünftigen Arbeit sicherlich von Nutzen sein werden. Eine der wichtigsten Erkenntnisse war, dass das Arbeiten mit Papierprototypen und das flexible Erproben mit Tester*innen extrem effektiv ist! Diese Methode erlaubte uns, schnell auf Feedback zu reagieren und unser Spielkonzept iterativ zu verbessern. 

  • Tools können helfen, können aber auch unflexibel machen und spontane Einfälle beim Experimentieren in der Prototypenphase erschweren oder gar verhindern

    Ein weiteres wichtiges Learning war der Umgang mit unserem Tool Omatools. Was am Anfang noch Zeit sparte, kam am Ende mit doppelt so viel Arbeit wieder auf uns zurück und versperrte sogar neue Wege beim Experimentieren. Deshalb ist es hier ratsamer, sich nicht nur auf ein neues Tool-Set zu fokussieren, sondern flexibel zu bleiben. Das könnte zum Beispiel bedeuten, auch die Entwicklung eines Tools iterativ zu behandeln und stets dazu bereit zu sein, damit von vorne zu beginnen. 

  • Videoaufnahmen der Test-Sessions des Paper-Prototyps bilden das perfekte Vorbild für eine digitale Umsetzung

    Ein großer Aha-Moment war auch die Bedeutung der Auswertung unserer Dokumentationen. Hätte ich sofort mit Beginn der Digitalisierung die aufgenommenen Videos der Papierprototyp-Sessions analysiert, hätte ich mir einige Durchläufe mit dem digitalen Prototyp sparen können. Auch die Erkenntnis, kleinere Brötchen zu backen, war entscheidend. Damit meine ich, lieber kleinere Game-Loops zu bauen und zu testen und weniger Story zu integrieren, selbst wenn es sich um ein narratives Spiel handelt. Lieber noch einmal von vorne anfangen und eine neue Game-Mechanik ausprobieren, als an der bestehenden Version herumzudoktern. Diese Herangehensweise gibt mehr Freiheiten und Flexibilität im Schaffen und macht große Veränderungen erträglicher, da man immer mit der alten Version einen Rückzugspunkt hat. 

    Achtung: die Videos müssen früh genug und geduldig genug ausgewertet werden, sobald die Digitalisierung in Probleme gerät, sollte das Videomaterial sofort wieder herangezogen werden 

  • Nie nur einen Weg einer Produktionsfinanzierung im Blick haben, immer mehrere Möglichkeiten betrachten und ernsthaft durchdenken und immer eine Alternative zur Spielverwirklichung in der Hinterhand haben

    Zu guter Letzt haben wir gelernt, dass es wichtig ist, sich nicht nur auf einen Geldgeber zu verlassen. Dass wir wie ein Zyklop einäugig auf die Stiftungsgelder blickten, hat uns wertvolle Zeit geraubt, andere Finanzierungsmodelle abzuwägen und zu testen. Diversifikation in der Finanzierung ist essenziell, um nicht in eine finanzielle Sackgasse zu geraten. So ist es vielleicht vor allem in so einem riskanten Vorhaben wichtig, mehrere finanzielle Standbeine im Auge zu behalten.