Technologie & Innovation

Thomas Bedenk
Veröffentlicht am 7. August 2024

Die Games-Industrie ist bereits seit ihren Ursprüngen in der Mitte des 20. Jahrhunderts Antreiber von Innovation. Im Mittelpunkt stehen dabei häufig technische Entwicklungen wie etwa leistungsfähige Prozessoren und spezialisierte Hardware zur Berechnung und Ausgabe aufwändiger Grafik (sogenannte Grafikkarten). Aktuell sind es Themen wie Virtual Reality, Künstliche Intelligenz und Cloud Computing – über das Internet verfügbar gemachte Hard- und Software-Dienstleistungen – die diskutiert werden. Spieler*innen und ihr Wunsch nach Neuem fordern diese schnelllebige Branche aber in allen Bereichen. Oft übersehen ist der wegweisende Einfluss auf die Mensch-Maschine-Interaktion, auf digitale Vertriebsmodelle und moderne Arbeitsmodelle. In all diesen Bereichen wurden von der Games-Industrie Standards gesetzt, lange bevor andere Wirtschaftsbereiche folgten. Das liegt vor allem an der Nähe des Produkts Spiel zur Natur des Menschen. Der Mensch entdeckt sich im Spiel selbst. Das Spiel schafft einen Raum, um gedanklich zu experimentieren und sich gesellschaftlich einzuordnen. Games prägen so die Gesellschaft, nehmen aber auch Entwicklungen vorweg, die früher oder später in den privaten Alltag und das Geschäftsleben Einzug finden.

Diese Innovation geschieht immer im Kontext von Forschung oder im Austausch mit anderen Industrien, doch ganz besonders im Kontext des Spielens selbst, denn Games funktionieren nur mit Spieler*innen als Akteur*innen. Das Nutzererlebnis stand bei Games im Mittelpunkt, lange bevor der Begriff »User Experience« (UX) geprägt wurde. Unter UX wird der Ansatz verstanden, das Nutzer*innenerlebnis bei der Mensch-Maschine-Interaktion ganzheitlich zu betrachten. Eine Funktion soll nicht nur nützlich sein, sondern auch ansprechend und die emotionale Reaktion der Nutzer*innen berücksichtigen. Neben der direkten Interaktion geht es auch um die Antizipation und Nachwirkung der Nutzung. Beim Spieledesign ist diese Betrachtungsweise schon immer eine Notwendigkeit, weil Spielmechanik und resultierende Ästhetik stark verschränkt sind. Games schaffen es, Spieler*innen aus eigenem Antrieb heraus zu motivieren, weil sie im Moment der Interaktion faszinieren. Durch eine geschickte Abstimmung von Aufgaben, individueller Herausforderung und Handlungsmacht gehen Spieler*innen in ihrer Tätigkeit auf, dieser Zustand ist wissenschaftlich auch als »Flow« beschrieben worden. Diese intensiven Erlebnisse beschäftigen Spieler*innen über den Moment hinaus. Folgerichtig ergeben sich für die Wirtschaft und Gesellschaft enorme Chancen aus diesem Verständnis über die psychologischen Abläufe, wenn der Blick über den Tellerrand in diese Unterhaltungsbranche nicht nur zugelassen, sondern gezielt ins Auge gefasst wird.

Games und Arbeit

Gamification beschreibt den Ansatz, spieltyptische Elemente in anderem Kontext zu nutzen, um Aufgaben interessanter zu gestalten und so die Motivation zu erhöhen. Das Thema ist inzwischen in der Konzernwelt angekommen, allerdings ist es nicht ohne weiteres möglich, diese tiefgreifenden Änderungen organisatorisch auch durchzusetzen. Zudem muss sich noch zeigen, in welchen Bereichen diese Methode wirklich langfristig funktioniert. Schließlich bleibt der Hauptzweck der jeweils gestellten Aufgaben die produktive Arbeit, was sich nur bedingt durch spielerische Ansätze verschleiern lässt. Aber auch bei weiteren modernen Arbeitsmethoden ist die Games-Branche oft einen Schritt voraus. In der Computerspielentwicklung ist die global vernetzte Zusammenarbeit seit vielen Jahren etabliert und gilt so als Vorbild für andere Bereiche. Durch die digitale Natur des Produkts gibt es relativ geringe Hürden für die Arbeit in verteilten Teams. Das gilt umso mehr, seit die Branche in den letzten zehn Jahren zunehmend auf den digitalen Vertrieb umgeschwenkt ist. Auch die agile Softwareentwicklung wurde von der Branche sehr schnell verinnerlicht und federführend vorangetrieben. »Agil« meint hier, dass Spiele, statt vorab vollumfänglich geplant, Schritt-für-Schritt entwickelt und so iterativ, in sich wiederholenden Abläufen, und inkrementell, schrittweise, optimiert werden. Sinnvoll ist das vor allem aufgrund der enormen Komplexität des Produkts, aber auch, weil Spiele grundsätzlich ein nur vage zu definierendes Erlebnis sind. Sie müssen immer wieder ausprobiert werden, um zu sehen, was nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis unterhält und was noch verbessert werden muss. Dieses Prinzip wird inzwischen von vielen Unternehmen auch außerhalb der Softwareentwicklung adaptiert. Schließlich sind große Organisationen selbst nur schwer greifbare Konstrukte und profitieren so von diesem Ansatz der kontinuierlichen Anpassung.

Von Games lernen

Betrachten wir die Entwicklung der räumlichen Medien Virtual und Augmented Reality, wird schnell klar, welches Potenzial neben dem der Unterhaltung darin schlummert. Virtual Reality (VR) beschreibt ein Medium, dass die Sinne weitgehend täuscht und ein Gefühl erzeugt, in einem anderen simulierten Raum anwesend zu sein. Augmented Reality (AR) bezeichnet die Erweiterung der natürlichen Wahrnehmung im Raum. So können zusätzliche Informationen oder Objekte ins Gesichtsfeld projiziert werden, als ob sie sich im physischen Raum befinden. Für beide Technologien tragen Nutzer*innen meist eine Datenbrille, ein sogenanntes Head-Mounted-Device (HMD). Zur Eingabe wird die Augen-, Hand- und restliche Körperbewegung kontinuierlich erfasst. Die Anwendungsszenarien von VR und AR sind so vielfältig wie der Reifegrad der einzelnen Anwendungen. Die folgenden Szenarien sind allerdings keine Zukunftsmusik, sondern alle bereits verfügbar und machen sich Wissen aus der Games-Industrie zu Nutze, um effektiver zu wirken, bei Anwender*innen beliebter und kostengünstiger in der Anwendung zu sein.

Das globale Reiseaufkommen kann massiv reduziert werden, indem Expert*innen überall sofort präsent sind. Geschäftstermine und Konferenzen können zumindest zum Teil in die virtuelle Welt verlagert werden. Nutzer*innen agieren mithilfe von VR und AR zusammen im virtuellen Raum, während Videokonferenzen oft eine kommunikative Herausforderung darstellen, weil dort der räumliche Bezug fehlt. Schüler*innen lernen in bestimmten Szenarien besser und behalten mehr von ihrem Wissen. Statt der Abbildung einer tropischen Klimazonen im Buch, können sie gemeinsam auf virtuelle Exkursionen durch den Urwald gehen und die Fauna beobachten. Großeltern sitzen mit ihren hunderte Kilometer entfernten Enkelkindern im virtuell verschmolzenen Kinderzimmer und stapeln Klötzchen oder lesen eine Geschichte vor. Jugendliche bleiben in Bewegung bei virtuellen Tanzspielen und Laserschwertgefechten. Medizinische Verfahren können Patient*innen besser visualisiert werden. Vor der medizinischen Untersuchung im Magnetresonanztomographen (MRT) nimmt die virtuelle MRT-Tour die Angst vor dem Unbekannten. VR-Bewegungstherapien helfen durch die präzise erfassten Körperbewegungen mobil zu bleiben. Bei Schlaganfallpatient*innen hilft eine VR-Rehabilitationstherapie gar wieder das Laufen zu lernen. Ptient*inne können ihre Beine in der VR-Simulation leichter bewegen als in der Realität. Dadurch wird das Gehirn stimuliert, die Beine wieder ins Körperschema zu integrieren. Gleichzeitig kann die Therapie passgenauer und motivierender gestaltet werden.

Risiken und Herausforderungen

Diese Potenziale gilt es zu nutzen und zu fördern, ohne dabei die Risiken zu übergehen, die die neuen Technologien mit sich bringen. Denn natürlich wirken die oben beschriebenen Mechanismen auch im Marketing und der politischen Kommunikation ausgezeichnet. Der echte Raum wird durch den augmentierten Raum überlagert. Beispielsweise erhielten Burger-King-Kund*innen 2019 in Brasilien einen kostenlosen Burger, wenn sie mit ihrem Smartphone die Werbeanzeigen von McDonald’s virtuell in Flammen setzten. Noch funktioniert eine solche Nutzung über eine Smartphone-App lediglich wie ein Fenster in eine andere Welt. Sollten wir allerdings in unserem Alltag AR-Brillen tragen, dann stellt sich die Frage, wer in Zukunft kontrolliert, was wir um uns herum wahrnehmen. Sehr wahrscheinlich werden die Plattforminhaber*innen diese Funktion übernehmen, ähnlich wie das in sozialen Medien heute schon Realität ist. Auch die technologiebedingt detailliert erhobenen Bewegungsdaten stellen eine neue Herausforderung für den Datenschutz dar. Die Aufmerksamkeit der Anwender*innen lässt sich zu jeder Zeit von Kopf- und Augenbewegung ableiten und sogar lenken. Wenn es Spieldesigner*innen geschickt gelingt, Spieler*innen unterstützt durch ein Level zu navigieren, dann ist es zumindest plausibel, dass es ähnliche Methoden bald auch in der Realität geben könnte. Das zusätzliche Potenzial zur Manipulation erfordert in jedem Fall eine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik und ein Verantwortungsbewusstsein der Anwendungsdesigner*innen. Wir sollten uns der Entwicklung also nicht verschließen, sondern mit offenen Augen voranschreiten. Es gilt, aufzuklären und die Bedingungen zu schaffen, dass diese Technologien im bestmöglichen Sinne unserer Gesellschaft und Wirtschaft zugute kommen. Die Risiken sind am besten zu kontrollieren, wenn die Plattformen und Anwendungen aktiv mitgestaltet werden.

Die Games-Industrie macht sich neue Möglichkeiten sehr schnell und direkt zunutze, um Spieler*innen auf der ganzen Welt zu begeistern. Die Innovationszyklen sind verhältnismäßig kurz und die Motivation, Neues auszuprobieren, sehr hoch. Auch wenn die Games-Branche weit davon entfernt ist, über jeder Kritik zu stehen, stellt sie in manchen Belangen eine Art Testballon für die Gesellschaft dar, ohne das unbedingt selbst sein zu wollen. Spiele sind frei, sie stellen einen risikoarmen Raum zum freiwilligen Experimentieren bereit. Spiele verbinden und vermitteln über Grenzen hinweg. Wir sollten uns mehr Zeit nehmen, um spielerisch zu lernen und um von der Games-Industrie zu lernen.

Thomas Bedenk ist Director Immersive Media bei der Berliner Digitalagentur Exozet.

Dieser Beitrag wurde ursprünglich und in unveränderter Fassung veröffentlicht in: Olaf Zimmermann & Felix Falk (Hg.): Handbuch Gameskultur. Über die Kulturwelten von Games. Berlin, 2020, S. 236 – 239.