Inklusion

Melanie Eilert
Veröffentlicht am 7. August 2024

In Deutschland leben fast 83 Millionen Menschen. Viele dieser Menschen, nämlich fast die Hälfte, spielen Computerspiele. Es ist nicht mehr von der Hand zu weisen, dass Computerspiele einen großen Teil der modernen Popkultur ausmachen. Für viele ist es selbstverständlich, sich am Ende des Tages vor den Computer oder die Konsole zu setzen und den Tag mit einem Spiel ausklingen zu lassen. Auch unterwegs, zum Beispiel auf dem Weg zur Schule oder Arbeit, spielen viele Menschen auf ihren mobilen Geräten. Doch nicht jeder Mensch kann einfach so spielen. Eine statistische Größe, die im Allgemeinen nicht so bekannt ist, besagt, dass knapp zehn Prozent der in Deutschland gemeldeten Personen mit einer amtlich nachgewiesenen Schwerbehinderung leben. Das ist also fast jede zehnte Person. Doch hierbei handelt es sich nur um die amtlich nachgewiesenen Schwerbehinderungen, die „Dunkelziffer“ wird höher liegen. So befragte eine vom US-amerikanischen Entwicklerstudio PopCap Games in Auftrag gegebene Studie 13.000 spielende Menschen, ob sie sich als behindert identifizieren würden. Dies bestätigten 20,5 Prozent der Teilnehmenden. Daher liegt es nahe, dass es Überschneidungen zwischen Spielenden und behinderten Menschen gibt.

Die Teilhabe an der Gameskultur ist gerade für behinderte Menschen wertvoll, denn kulturelle Teilhabe im Allgemeinen ist für viele behinderte Menschen mit Problemen verbunden. Um hierfür nur wenige Beispiele zu nennen: Konzerte finden in Lokalitäten statt, die mit einem Rollstuhl nicht zugänglich sind. Der öffentliche Nahverkehr ist nicht entsprechend ausgebaut und es müssen Umwege herausgesucht werden, die über Rampen oder Aufzüge erreichbar sind. Chronische Erschöpfung kann es unmöglich machen, die Wohnung für einen Theater oder Museumsbesuch zu verlassen. Museen verfügen nicht über ausreichend taktile Beschriftungen für blinde Menschen oder Theater bieten keine Übersetzung in Gebärdensprache an. Computerspiele hingegen finden in den eigenen vier Wänden statt und ermöglichen so die Teilhabe an (Pop-) Kultur in der gewohnten und zumeist gut angepassten Umgebung. Des Weiteren können Computerspiele eine gute Ablenkung sein und so z.B. Menschen mit chronischen Schmerzen beim Schmerzmanagement helfen. Diese Ablenkung entsteht zum Beispiel durch die Möglichkeit, in verschiedene Rollen zu schlüpfen oder wilde Abenteuer in fantastischen Welten zu erleben. Von Fußball spielen über Drachen jagen bis hin zu einem Spaziergang im Weltall ist für die Spielenden prinzipiell alles möglich. Online Computerspiele zu spielen, kann auch die soziale Interaktion erleichtern, da zum einen die zuvor schon genannten Umweltbarrieren entfallen und zum anderen durch die mögliche Anonymität auf beiden Seiten Berührungsängste abgebaut werden können.

Die Teilhabe für behinderte Spielende in Computerspielen zu erreichen, ist jedoch nicht immer leicht und wird mitunter auch heiß in der Gaming-Community diskutiert. Einige behinderte Spielende benötigen Optionen im Spiel oder angepasste Eingabegeräte, um in der Gameskultur teilhaben zu können, denn Computerspiele leben davon, die Spielenden vor Aufgaben zu stellen, welche sie im Spielverlauf lösen müssen. Doch was ist, wenn die Aufgaben zum Beispiel aufgrund motorischer Beeinträchtigung nicht erfüllt werden können? Ein häufig eingesetztes Mittel, um zu verdeutlichen, dass die Spielfigur sich gerade anstrengen muss, etwa weil sie einen schweren Holzbalken anhebt, ist beispielsweise das sogenannte „Button-Mashing“, das wiederholte schnelle Drücken eines Knopfes. Für Spielende mit Behinderung kann dies schnell zu Überanstrengung und/oder Schmerzen führen. Eine Option, die das Button-Mashing auf ein kurzes Halten des Knopfes ändert, kann den Unterschied machen, ob dieses Spiel das nächste Lieblingsspiel wird oder überhaupt nicht genossen werden kann. Auch problematisch ist oft, mehrere Tasten auf einmal gedrückt zu halten, zum Beispiel beim gleichzeitigen Zielen und Schießen wie es etwa in einem Ego-Shooter der Fall ist. Hier kann eine Einrastfunktion, die per einmaligem, kurzen Drücken zwischen „Zielen“ und „nicht Zielen“ hin- und herschaltet, helfen.

Recht häufig finden sich in Computerspielen Optionen, um Farbfehlsichtigkeiten auszugleichen. Farbfehlsichtigkeit kann zum Beispiel in Computerspielen, wo mehrere Spielende in Teams gegeneinander spielen, problematisch werden. Oft werden die Charaktere der verschiedenen Teams durch farbliche Markierungen unterschieden, doch für manche Personen kann es aufgrund ihrer Farbfehlsichtigkeit sehr schwer sein, diese Farben zu unterscheiden und so wissen sie dann nicht, wer zum Team gehört und wer Feind ist. Ein voreingestellter Farbfilter als aktivierbare Hilfe bei Farbfehlsichtigkeit ist jedoch selten eine gute Lösung. Es gibt viele verschiedene Farbfehlsichtigkeiten und ein solcher Filter hilft nur bei einem geringen Teil davon. Die beste Hilfe ist eine individuelle Auswahl. Viele Computerspiele bieten daher die Möglichkeit, aus unterschiedlichen Farbschemata zu wählen oder sich eines individuell anzupassen.

Daneben können auch Formen der Leseschwäche zu Problemen beim Spielen führen. Bei der Gestaltung von Texten wird oft mehr auf eine schöne oder ausgefallene Optik als auf Lesbarkeit geachtet. Spielende mit Leseschwächen können dann Schwierigkeiten haben, die Texte zu erfassen. Für diese Zielgruppe wurde eine spezielle Schriftart entwickelt, welche das Lesen erleichtern soll und von manchen Spielen optional als Einstellung angeboten wird. Doch auch Leseschwächen sind sehr individuell und so kann es sein, dass die spezielle Schriftart das Lesen sogar eher noch erschwert. Besser wäre, ein paar unterschiedliche Schriftarten zur Auswahl zu geben und bei der Gestaltung des Spiels direkt darauf zu achten, dass keine Animationen des Textes oder ein niedriger Kontrast zum Hintergrund die Lesbarkeit negativ beeinflussen. Auch einige blinde oder sehbehinderte Menschen spielen Computerspiele. Für sehbehinderte Spielende können starke Kontraste hilfreich sein, damit sich wichtige Objekte besser vom Hintergrund abheben. Große Schriften und große Elemente sind ebenso wichtig. Für blinde Spielende ist es wichtig, dass es eine Vorlesefunktion für die Menüs und das Inventar gibt. Außerdem benötigen sie Audioausgaben zur Orientierung. So sollte zum Beispiel hörbar sein, aus welcher Richtung die eigene Spielfigur von einem anderen Charakter angesprochen wird oder das Spiel sollte über Töne signalisieren, ob ein Schuss trifft oder daneben geht. Wichtig, aber noch wenig in Computerspielen umgesetzt, ist auch Audiodeskription für filmische Zwischensequenzen. Wenn in einer solchen Sequenz zum Beispiel gerade nur Explosionen zu hören sind, ohne dass sprachlich das Geschehen wiedergegeben wird, können blinde Spielende nicht wissen, was gerade passiert und es im besten Fall nur erahnen.

Fast schon zum Standard in Computerspielen gehören hingegen Untertitel. Untertitel ermöglichen es schwerhörigen oder gehörlosen Spielenden, das Spielgeschehen besser zu verfolgen. Doch obwohl fast jedes Spiel mittlerweile über Untertitel verfügt, gibt es noch einige Hürden. Manchmal sind die Untertitel sehr klein geschrieben oder heben sich schlecht vom Hintergrund ab. Es kommt auch vor, dass bei den Texten nicht dazu geschrieben wird, welcher Charakter gerade spricht, sodass die Spielenden dies dann nicht zuordnen können. Zusätzlich zu Untertiteln ist auch wichtig, dass visuell auf Geräusche aufmerksam gemacht wird, die eine Handlung erfordern. Wenn beispielsweise ein Telefon im Raum klingelt und von den Spielenden abgehoben werden soll, um mit dem Spiel fortfahren zu können, muss darauf auch mit einem sichtbaren Hinweis aufmerksam gemacht werden.

Häufig wird in der Gaming-Community darüber diskutiert, ob Optionen, die das ein oder andere Hindernis im Spiel verändern, nicht das Spielerlebnis im Gesamten verändern oder von der Vorstellung der Entwickelnden abweichen. Es gibt regelmäßig, insbesondere dann, wenn Spiele des sogenannten „Souls-Like“-Genres – basierend auf dem Spiel Demon’s Souls (From Software, 2009) – erscheinen, heftige Diskussionen über Schwierigkeitsgrade. Spiele dieses Genres zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Spielenden ein hohes Maß an Können und Durchhaltevermögen abverlangen. Für behinderte Spielende jedoch kann es aus verschiedenen Gründen unmöglich werden, das erforderte Können zu erreichen. Manche Behinderungen verlangsamen die Reaktionsfähigkeit oder es ist einer Person nicht möglich, innerhalb eines knappen Zeitfensters eine bestimmte Abfolge an Knöpfen zu betätigen. Auch in solchen Fällen können Optionen helfen, das Spielerlebnis so anzupassen, dass aus der zu großen Hürde die gewünschte Herausforderung entsteht und die Spielenden mit Behinderung nicht mehr vor einer unüberwindbaren Überforderung stehen.

Einige Spielende ohne Behinderung, die sich in Foren und Social Media lautstark an Diskussionen zu obigem Thema beteiligen, sehen diesen Effekt jedoch nicht. Für sie sind solche Optionen ein Eingriff in das Wesen dieser Spiele. In den Diskussionen könnte fast der Eindruck entstehen, es solle ihnen persönlich der Spaß am geliebten Spiel genommen werden; ganz so, als wäre die eigene Ehre davon abhängig, auf welche Weise andere Spielende das Spiel gespielt haben. Häufig fällt dann von ihnen der Satz: „Wenn du das Spiel so nicht spielen kannst, dann ist es eben nicht für dich.“ Mit einer solchen Haltung werden Spielende mit Behinderung aus der Gameskultur ferngehalten. Das ist nicht nur verletzend, sondern im höchsten Maße exkludierend – genauso wie die fehlgeleitete Annahme, die ganzen eben genannten Optionen seien unnötig, weil es doch „auf YouTube diese eine behinderte, spielende Person gibt, die das schwere Spiel trotz allem mit einer Hand geschafft hat“. Keine Behinderung ist wie die Andere und was für die eine Person funktioniert, kann für die andere immer noch problematisch sein.

Dass es viele Bestrebungen gibt, die Inklusion von Spielenden mit Behinderung in die Gameskultur zu fördern, zeigt sich an anderen Beispielen. Mehr und mehr Spiele bieten eine Vielzahl an Optionen an, die es den Spielenden erlauben, das jeweilige Spiel so anzupassen, dass sie es wie gewünscht genießen können. Auch die Konsolenhersteller machen sich immer mehr Gedanken. Es werden im Betriebssystem verschiedene Hilfsmittel eingebaut, die bei der Bedienung unterstützen können, z.B. durch eine virtuelle Bildschirmvergrößerung oder vorgelesene Menüpunkte, oder es werden sogar individuell anpassbare Controller entwickelt. Insbesondere die Entwicklung anpassbarer Controller durch die Konsolenhersteller selbst ist sehr wertvoll für die Sichtbarkeit behinderter Spielender und ihre Akzeptanz innerhalb der Community. Spielende mit Behinderung sind weniger darauf angewiesen, sich selbst eine Individuallösung anzufertigen oder anfertigen zu lassen, sondern finden ihre Eingabegeräte in denselben Shops wie jede andere Person auch. Das wiederum führt dazu, dass Spielende ohne Behinderung diese Geräte sehen und somit behinderte Spielende als Teil der Gaming-Community wahrnehmen.

Anpassbare Controller und Optionen in den Spielen können sich ergänzen. Für Spielende mit motorischen Behinderungen reicht es manchmal nicht aus, das Spiel mit Optionen anzupassen, da sie einen Standardcontroller nicht oder nur teilweise bedienen können. Durch anpassbare Controller haben sie die Möglichkeit, sich individuell auf sie zugeschnittene Aufbauten aus verschiedenen, einzeln platzierbaren Knöpfen und Joysticks zusammenzustellen. Eine geschickte Kombination aus Optionen im Spiel und einer guten Zusammenstellung mit einem anpassbaren Controller, kann auch bei schweren Behinderungen die Teilhabe an der Gameskultur ermöglichen.

Einen anderen Ansatz verfolgen Computerspiele, die gezielt für Spielende mit einer bestimmten Behinderung entwickelt werden. So gibt es z.B. Audiogames, welche sich insbesondere an blinde und sehbehinderte Spielende richten. Audiogames geben sämtliche Informationen, die wichtig sind, um das Spiel zu spielen, über Geräusche und Sprache aus. Auch Spielende, die nicht auf gute Audioausgaben zur Orientierung angewiesen sind, finden Gefallen an Audiogames und es finden so Kontakt und Austausch zwischen behinderten und nicht-behinderten Spielenden über dieses spezielle Genre statt. Optionen und anpassbare Controller sind ein sehr wichtiger Baustein zur Inklusion in der Gameskultur. Echte Inklusion ist jedoch erst dann gelungen, wenn sich Spielende mit Behinderung auch in den Spielen repräsentiert fühlen können. Die Repräsentation von Menschen mit Behinderung lässt in Computerspielen – wie auch in Büchern oder Filmen und Serien – sehr zu wünschen übrig. Sehr selten sind behinderte Charaktere überhaupt Teil der Spielewelten, und wenn doch, werden die Charaktere auf Basis von Vorurteilen oder Mutmaßungen gezeichnet.

So sind am häufigsten Charaktere mit Amputationen anzutreffen oder solche, die Aufgrund einer Querschnittslähmung im Rollstuhl sitzen. Dass es noch viele andere Behinderungen gibt, bleibt in den Computerspielwelten oft unsichtbar. Die meisten behinderten Charaktere haben gemeinsam, dass ihre Behinderung im Verlauf der Handlung geheilt wird. Meist passiert dies in einer schmerzhaften Operation oder durch einen quälenden magischen Eingriff. So wird vermittelt, dass eine Behinderung grundsätzlich etwas Schlechtes ist, das es, selbst unter sehr großen Schmerzen, aus der Welt zu schaffen gilt. Darüber hinaus werden Behinderungen oder Hilfsmittel behinderter Menschen auch gerne als Horror-Element genutzt. Auf einem düsteren, verlassenen Flur steht ein alter Rollstuhl herum, der plötzlich unter Quietschen ein paar Zentimeter nach vorne rollt. Wieder entsteht eine negative Verknüpfung zu Behinderung. Diese oftmals schlechte Art, Charaktere mit Behinderung darzustellen, führt häufig zu Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung und kann so die Inklusion in der Gaming-Community ausbremsen. Unsicherheiten und Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderung werden verstärkt. Spielende mit Behinderung verdienen eine gute Repräsentation und das nicht nur, um sich mit einzelnen Charakteren identifizieren zu können, sondern besonders, um Vorurteile abzubauen und Inklusion zu stärken.

Der wohl wichtigste Baustein zur Inklusion ist, Menschen mit Behinderung in die Entwicklungsteams zu holen. Behinderte Menschen sind Fachleute in eigener Sache. Als Teil eines diversen Teams von Entwickelnden können sie von Anfang an darauf schauen, wo unbeabsichtigte Barrieren entstehen können und ob die geplanten Optionen sinnvoll sind. Es ist zum Beispiel niemandem mit Optionen geholfen, wenn diese an der Zielgruppe vorbei entwickelt werden, daher sollten behinderte Spielende schon früh an Spieletests teilnehmen können. Gleiches gilt für die Repräsentation. Es sollten mehrere Menschen mit Behinderung die Darstellung von Charakteren mit Behinderung begutachten. Nur so können eine sensible und gute Repräsentation und somit gute Inklusion erreicht werden.

Melanie Eilert ist (Gaming-)Inklusionsaktivistin.

Literatur

 

Dieser Beitrag wurde ursprünglich und in unveränderter Fassung veröffentlicht in: Olaf Zimmermann & Felix Falk (Hg.): Handbuch Gameskultur. Über die Kulturwelten von Games. Berlin, 2020, S. 209 – 213.