Games: Zwischen Kunstfreiheit, Gewaltdebatte und Erinnerungskultur
Der Weg der digitalen Spiele zum Kulturgut.
Games als Teil der Kulturfamilie
Der 22. August 2017 ist für den Computerspielebereich ein bedeutendes Datum. Erstmals hatte damals Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel die Messe gamescom in Köln eröffnet. Die Bundeskanzlerin unterstrich neben der Bedeutung von Computerspielen als Innovationsmotor und Wirtschaftsfaktor auch ihren Status als Kulturgut.
Zehn Jahre vor diesem Datum überboten sich Politiker*innen in Bund und Ländern noch mit ihren Vorschlägen, Gesetze zum Schutz von Jugendlichen und auch von Erwachsenen vor Computer- und Videospielen zu erlassen. Es war die Zeit, in der jeder Ausbruch von Gewalt seinen Ausgang vermeintlich in elektronischen Spielen nahm. Dass sie hingegen vielleicht sogar einen konstruktiven Beitrag zur Erinnerungskultur in Deutschland und weltweit leisten können, lag noch völlig außerhalb der Vorstellungskraft vieler Beteiligter von damals.
In einer Pressemitteilung am 14. Februar 2007 schrieb ich damals:
“Bei der Debatte um Gewalt in Computerspielen darf aber nicht über das Ziel hinausgeschossen werden. Erwachsene müssen das Recht haben, sich im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen auch Geschmacklosigkeiten oder Schund anzusehen bzw. entsprechende Spiele zu spielen. Die Meinungsfreiheit und die Kunstfreiheit gehören zu den im Grundgesetz verankerten Grundrechten. Die Kunstfreiheit ist nicht an die Qualität des Werkes gebunden. Kunstfreiheit gilt auch für Computerspiele.”
Ein Sturm der Entrüstung brach damals über den Deutschen Kulturrat hinein. Denn wenn die grundgesetzlich verbriefte Kunstfreiheit auch für Computerspiele gelten sollte, dann wären Computerspiele Kunstwerke, wie z.B. Filme und Popmusik. Und damit gehöre die gesamte Branche logischerweise zum Kulturbereich und läge im Verantwortungsbereich der Kulturpolitik. Sie wäre demnach ein Teil der großen „Kulturfamilie“.
Doch neben der lebhaften Empörung gab es auch Unterstützung für die vorgeschlagene Erweiterung des Kunstbegriffes. Endlich werde die kulturelle Bedeutung von Computerspielen deutlich hervorgehoben, war zu hören. Es wurde Zeit, dass klargemacht wird, nicht nur in Computerspielen ist Gewalt ein wichtiges Handlungsmovens, sondern ebenso in Romanen, Filmen und der Bilden – den Kunst.
Heute, mehr als 13 Jahre nach dem Beginn der Debatte über die Computerspiele als Kulturgut, zweifelt kaum jemand mehr an, dass Computerspiele selbstverständlich Kulturgut sind. Und manche Perlen unter den Computerspielen sind sogar Kunstwerke. Ein Spiel wie das in Berlin entwickelte Through the Darkest of Times (2020) setzt sich etwa ganz selbstverständlich und gekonnt mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinander und wird dafür weltweit von der Kritik und von den Spieler*innen gefeiert. Gleichzeitig handelt es sich um das erste Computerspiel aus Deutschland, dem die sogenannte „Sozialadäquanz“ zugestanden wird, es im Rahmen der Freiheit von Kunst und Bildung also auch verfassungsfeindliche Kennzeichen, zum Beispiel Hakenkreuze, zeigen darf. Der Kampf für Computerspiele als Kulturgut und damit für eine Gleichbehandlung mit den anderen künstlerischen Genres war also erfolgreich.
Die Aufnahme der Games in die „Kulturfamilie“ erfolgte aber weitgehend ohne Mithilfe der etablierten Kulturpolitik. Games eroberten zuerst die Herzen der Spieler*innen und damit die Märkte. Angefangen von Pong (1972), was nur einen kleinen Kreis an Enthusiasten erreichte, über den Familienklassiker Super Mario (seit 1983) bis hin zur Moorhuhnjagd (1999), einem vermeintlich beliebten Bürospiel, zuallererst waren die Nutzer*innen begeistert. Egal, ob PC-Spiel, Konsole oder Game Boy: Games waren im Kulturmarkt präsent, sie wurden gekauft und vor allem gespielt.
Gewalt, Verbotsdebatte, Index
Die Kulturpolitik hatte über lange Zeit kein wirkliches Interesse an Games. Ihnen haftete ein Schmuddel- und Gewaltimage an. Games passten und passen, trotz aller Anerkennungserfolge, nicht in das klassische kulturpolitische Denken, dass sich an künstlerischen Genres und Kulturorten orientiert. Kernthemen der Kulturpolitik sind Musik, Darstellende Kunst, Literatur und Bildende Kunst.
Games stehen quer dazu und allzu lange hat meines Erachtens die Kulturpolitik gezögert, Games ebenso wie Musik, Literatur, darstellende Kunst und Bildende Kunst oder zumindest wie Film zum Gegenstand des kulturpolitischen Handelns zu machen. Die erste politische Debatte, die zu Games geführt wurde, war eben die Verbotsdebatte.
Auch wenn Musik nach Pornografie nach wie vor eine herausragende Bedeutung bei der Indizierung von Kulturgütern einnimmt, wurde nur sehr selten über die Gefährdung von Musik gesprochen, dafür umso mehr über die Verrohung durch Computerspiele.
Als ich im Jahr 2007 die erste Auflage des Buches Streitfall Computerspiele. Computerspiele zwischen kultureller Bildung, Kunstfreiheit und Jugendschutz herausgab, war die Empörung in der klassischen Kulturpolitik unüberhörbar.
Der Weg zum Kulturgut
Zum Glück gehört diese scharfe Ablehnung der Vergangenheit an. Zwei Jahre nach dem Erscheinen des Buches wurde erstmals der Deutsche Computerspielpreis verliehen. Preisausrichter waren der Kulturstaatsminister sowie die beiden Branchenverbände BIU und G.A.M.E., die inzwischen zum gemeinsamen Verband game – Verband der deutschen Games-Branche fusioniert sind.
Grundlage für den Deutschen Computerspielepreis waren entsprechende Entscheidungen des Deutschen Bundestag, die von den damaligen Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD eingebracht wurden. Ziel des Deutschen Computerspielpreises war und ist die Förderung pädagogisch und kulturell wertvoller Spiele. Es sollte und soll insbesondere die deutsche Entwicklerszene finanziell gefördert und ihr ein ›roter Teppich‹ ausgerollt werden. Seit 2014 ist nicht mehr die Kulturstaatsministerin Mitausrichterin des Deutschen Computerspielpreises, sondern das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, seit 2018 ist zusätzlich die Staatsministerin für Digitales im Bundeskanzleramt dabei. Im Jahr 2020 wird mit Through the Darkest of Times erstmals ein Computerspiel als Bestes Serious Games ausgezeichnet, dass sich explizit als Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur versteht.
Das BKM (Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien) als das Haus in der Bundesregierung, in dem die Kulturpolitik des Bundes geplant und gefördert wird, dass die Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur gestaltet, ist bis auf einige wenige kleine Maßnahmen der Computerspielförderung außen vor. Zwar wird mit dem Quartett der Spielekultur aus Mitteln der BKM eine Diskussionsveranstaltung gefördert, zwar gehören Games zum Portfolio der Kulturwirtschaftspolitik des BKM, doch eine seiner wirtschaftlichen und künstlerischen Bedeutung angemessene Wertschätzung erhält der Bereich im Amt der Kulturstaatsministerin (noch) nicht. Das ist bedauerlich, weil damit Games zumindest auf der Bundesebene in der Kulturpolitik ein Schattendasein führen.
Games sollten als kulturpolitisches Handlungsfeld ernster genommen werden. Ähnlich dem Film ist die Entwicklung von Games ein arbeitsteiliger Prozess, an dem viele Gewerke beteiligt sind und Inhalte, Sounds, Bilder usw. beisteuern. Und ähnlich dem Film gibt es Games, die das breite Publikum ansprechen und einem Massengeschmack entsprechen und solche, die ein kleines, spezielles Publikum im Blick haben, die sich an ausgefeilten Stories und ungewöhnlichen Bildern erfreuen oder die Erinnerung an die Vergangenheit wachhalten.
Games gehören inzwischen seit mehreren Jahrzehnten zum Medienalltag wie Musik, Filme, Serien, Bücher und anderes mehr. Sie sind fester Teil der Kulturfamilie, aber sie müssen auch weiterhin um die Anerkennung durch ihre älteren Geschwister kämpfen. In der sich gerade wieder deutlich verstärkenden Debatte zum Umgang mit unserer Vergangenheit, können Games einen wichtigen Beitrag leisten. Mit Computerspielen einen reflektierten Blick in unsere Vergangen werfen zu können und zu verstehen, ist eine wichtige zeitgemäße Form der Erinnerungskultur. Through the Darkest of Times weist den Weg in die richtige Richtung.
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats und Beiratsvorsitzender der Stiftung Digitale Spielekultur.
Dieser Beitrag wurde ursprünglich und in unveränderter Fassung veröffentlicht in: Stiftung Digitale Spielekultur (Hg.): Erinnern mit Games. Digitale Spiele als Chance für die Erinnerungskultur. Berlin, 2020, S. 68-71.