Digitale Spiele als Lern- und Vermittlungswerkzeuge

Wie können die lernpotentiale digitaler Spiele in der Erinnerungsarbeit und darüber hinaus genutzt werden.

Dr. Angela Tillmann
Veröffentlicht am 7. August 2024

Digitale Spiele können vielfältig als Lern- und Vermittlungswerkzeug eingesetzt werden, so auch im Kontext der Erinnerungsarbeit und in der Auseinandersetzung mit den Themen und der Zeit des Nationalsozialismus. Ob und in welcher Weise während und nach dem Spiel gelernt wird, hängt von vielfältigen Faktoren ab, nicht nur dem Spiel und Genre, sondern auch von dem Alter, dem Geschlecht, dem Vorwissen usw. der Spieler*innen. 

Spielend lernen

Einen wesentlichen Einfluss hat zudem der Kontext, in dem das Spiel gespielt wird. So können wir davon ausgehen, dass ein Lernspiel in der Schule weniger fasziniert als ein Spiel, das in der Freundesgruppe gespielt wird. Gleichermaßen ist aber weniger selbstverständlich davon auszugehen, dass im letzteren Fall mehr gelernt wird, auch werden teils ganz andere Dinge gelernt. Sind es in der Schule eher fachspezifische Inhalte, die im Vordergrund stehen, geht es unter Freund*innen v.a. darum, sich zugehörig zu fühlen und partizipieren zu können sowie reaktionsschneller und klüger zu sein als die anderen. Hier kommen dann auch Identitätsaspekte zum Tragen. 

So wundert es nicht, dass Serious Games in der Freizeit junger Menschen seltener Zuspruch finden. Zu groß ist die Sorge, dass die Unterhaltung und der Spielspaß zu kurz kommen. Im schulischen Kontext finden sich diese Spiele hingegen häufiger – wohl auch, da Lehrer*innen diese mediendidaktisch besser im Unterricht platzieren können. Glücklicherweise sind die Grenzen zwischen den Spielarten auch fließend; eine zu starke Didaktisierung ist letztlich auch noch keinem Medium gut bekommen. Anregungen dazu, wie digitale Spiele bei jungen Menschen ankommen, liefert der Spieleratgeber der Fachstelle für Jugendmedienkultur NRW. Hier werden Spiele von jungen Menschen selbst bewertet, darüber hinaus finden sich aber auch zahlreiche pädagogische Empfehlungen für verschiedene Bildungskontexte – für Familie, Schule, und Jugendhilfe. 

Es gibt auch Spiele, die die Brücke zwischen verschiedenen Bildungskontexten schlagen können, beispielsweise Attentat 1942 (Charles Games, 2017). Das Spiel beginnt im Jahr 1942 in Prag: Reichsprotektor Reinhard Heydrich, Hitlers Statthalter in der ehemaligen Tschechoslowakei, wird von Untergrundkämpfern der tschechischen Exilregierung getötet. Ein Mann wird im Anschluss an das Attentat von der Gestapo deportiert. Seine Enkel*innen bzw. die Spieler*innen sind aufgefordert herausfinden, warum ihr Großvater deportiert wurde und was er mit der Ermordung von Heydrich zu tun hatte. Das Spiel widmet sich der Aufarbeitung eines Familienschicksals im Nazi-Regime. Das Skript basiert auf historischen Quellen und Berichten, Schauspieler*innen erzählen die Geschichten von Zeitzeug*innen. Damit funktioniert das Spiel auch ohne pädagogische Begleitung, und doch zeigt es auch Anknüpfungspunkte für den Geschichts- und Ethikunterricht auf. Tipps dafür, wie dieses und andere Spiele im Nachgang bearbeitet werden können, finden sich beispielsweise auf den Plattformen der Bundeszentrale für Politische Bildung Spielbar und dem Angebot der Stiftung Digitale Spielkultur Digitale Spielewelten oder in der digitalen Broschüre des Zentrum polis, in der Games für den Geschichtsunterricht vorgestellt werden.

Attentat 1942

Thema: Holocaust, Nationalsozialistische Herrschaft, Widerstand, Zweiter Weltkrieg
Erscheinungsjahr: 2017

Was lernen mit Spielen?

Die Frage, was sich aus digitalen Spielen lernen lässt, lässt sich zudem nicht unabhängig vom Genre beantworten. Zwar sind die Spieler*innen immer gefordert, sich am Geschehen aktiv zu beteiligen und sich auf die Spielanforderungen und Aufgaben einzulassen, doch diese Aufgaben und Bewährungssituationen sind nach Genre und Spiel sehr unterschiedlich, sie fordern verschiedene Fähigkeiten und sind auch unterschiedlich schwierig. Bei der Bearbeitung von Themen im Kontext des Nationalsozialismus gilt es daher schon im Vorfeld zu überlegen, wie eine Geschichte und vom wem die Geschichte erzählt wird. Ein Actionspiel oder Shooter wie beispielsweise Wolfenstein: The New Order (Machine Games, 2014), in dem eine gute Koordination und Reaktionsschnelligkeit im Vordergrund steht, eignet sich wohl weniger.

Wolfenstein: The New Order

Thema: Holocaust, Nationalsozialistische Herrschaft, Politische Radikalisierung, Widerstand, Zweiter Weltkrieg
Erscheinungsjahr: 2014

Ein Strategiespiel, in dem vor dem Hintergrund eines zu erlernenden Regelwerks Entscheidungen zu treffen sind, eröffnet da hingegen deutlich mehr (Lern-)Optionen. Hier ist zum Beispiel Beholder (Warm Lamp Games, 2016) anzuführen – ein Spiel, das Spieler*innen in die Welt eines dystopisch-totalitären Staates eintauchen lässt und sie mit diversen moralischen Dilemmata konfrontiert: Als Hausmeister eines kleinen Mietshauses, der mit seiner Familie im Keller lebt, ist es die Aufgabe der spielenden Person, die Mieter*innen für den Staat auszuspionieren. Zu diesem Zweck stehen dem Hausmeister verschiedene Mittel zur Verfügung: z.B. Wohnungen zu durchsuchen oder Überwachungskameras zu installieren. Immer wieder sind die Spieler*innen aufgefordert fragwürdige Entscheidungen zu treffen. Alle Handlungen haben gravierende Konsequenzen.

Beholder 3

Thema: DDR, Politische Radikalisierung
Erscheinungsjahr: 2022

Ob und wie gelernt wird, darauf nimmt darüber hinaus das Alter Einfluss. So ist es auch und insbesondere bei der Behandlung von Themen rund um den Nationalsozialismus wichtig, dass das Spiel altersgerecht ausgewählt wird und die Erzählperspektive gut abzuwägen. Ein gutes Beispiel liefert die Game-Entwicklerin Elin Festoy beispielsweise in ihrem Spiel My Child Lebensborn (Teknopilot, 2018), in dem sie aus der Sicht eines Adoptivelternteils erzählt, wie diese in Norwegen ein Kind aus dem Lebensborn-Projekt des nationalsozialistischen Deutschen Reichs nach dem Kriegsende des Zweiten Weltkriegs aufzieht. Die Spieler*innen müssen dem Kind hier durch seine Kindheit helfen – eine Kindheit, die durch Misstrauen, Mobbing und Benachteiligung geprägt ist. Dadurch, dass die Person, die das Spiel spielt, die Perspektive des Elternteils einnehmen kann, wird ihr ein leichterer Zugang zur Geschichte eröffnet. Als Elternteil kann das spielende Kind aus der Opferrolle raustreten, Einfluss nehmen und sich selbstwirksam erleben. Und doch benötigt das Spiel My Child Lebensborn eine pädagogische Begleitung. Gerade Kinder und jüngere Jugendliche verfügen häufig noch über kein ausreichendes gesellschaftliches und politisches (Orientierungs-)Wissen und keine gefestigte Moral, um fiktionale Inhalte korrekt gegenüber historischen Begebenheiten abgrenzen und einordnen zu können. Mit zunehmendem Alter sind dann zwar weniger Erläuterungen notwendig, gleichwohl rücken andere Entwicklungsthemen wie die Identitätsfindung in den Vordergrund, werden vorgegebene moralische Grenzen der Gesellschaft ausgetestet und in Frage gestellt. Hier können dann auch Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen eine besondere Aufmerksamkeit und Bedeutung erhalten. Daher gilt es auch bei der Zielgruppe Jugendlicher mit besonderer Sorgfalt vorzugehen.

My Child: Lebensborn

Thema: Nationalsozialistische Herrschaft, Zweiter Weltkrieg
Erscheinungsjahr: 2018

Lernpotentiale digitaler Spiele

Die Lernpotenziale digitaler Spiele sind bei weitem noch nicht ausgereift. Bis heute spielen Inklusivität und Barrierefreiheit in der digitalen Spielwelt eine untergeordnete Rolle. So sollte die Barrierefreiheit im Sinne der UN-Behindertenrechts-Konvention bei der Gestaltung elektronischer Spiele zwar bereits mitgedacht werden, Barrieren existieren aber noch vielfältige: Spielgeschichten werden zu komplex erzählt, sie werden ausschließlich über einen Sinneskanal vermittelt, Aufgaben sind zu anspruchsvoll, sie enthalten visuelle oder auditive Hinweise, die nicht von allen Menschen wahrgenommen werden können usw. Die IGDA Game Accessibility Special Interest Group. hat in diesem Kontext eine Liste mit Eigenschaften entwickelt, welche die Zugänglichkeit zu elektronischen Spielen erleichtern sollen. Darüber hinaus dürfen Entwickler*innen zukünftig aber auch mehr Mut bei der Auswahl ihrer Spielcharaktere zeigen. Und auch bei der Entwicklung der Spiele und im Abbau von Barrieren bieten sich neue Lernkontexte an. In Makerspaces werden zum Beispiel nicht nur neue Möglichkeiten zur Teilhabe an Spielewelten, sondern auch zum gemeinsamen Lernen eröffnet. Dabei ergeben sich je nach Zielgruppe neue Herausforderungen. Im Hinblick auf Lernpotenziale grundsätzlich zu beachten gilt in jedem Fall, dass bei der Entwicklung von spielbasierten Digitalformaten möglichst vielfältige Perspektiven auf den Lerngegenstand als auch vielfältige technische Zugänge zum Lerngegenstand eröffnet werden. 

Dr. Angela Tillmann ist Professorin für Kultur- und Medienpädagogik an der TH Köln.

Dieser Beitrag wurde ursprünglich und in unveränderter Fassung veröffentlicht in: Stiftung Digitale Spielekultur (Hg.): Erinnern mit Games. Digitale Spiele als Chance für die Erinnerungskultur. Berlin, 2020, S. 26 – 29.