Digitale Spiele werden im Schulunterricht oft stiefmütterlich behandelt. Obwohl das relativ junge Medium seit 2008 durch den Verband GAME eine Vertretung im Deutschen Kulturrat hat und somit offiziell als Kulturgut anerkannt ist, führt es in unseren Schulen ein Schattendasein. Warum das so ist, aber auch, warum dies nicht so bleiben sollte, erläutert Jan Boelmann, Juniorprofessor für Literatur- und Mediendidaktik an der PH Ludwigsburg, in seiner Promotionsarbeit und weiteren Artikeln zum Thema. Als Einführung in seine Arbeit und die dahinterstehende Arbeit soll folgendes Exzerpt dienen, das in Abstimmung mit Herrn Professor Boelmann entstanden ist.
Lernen von und mit Kultur – warum nicht auch durch das digitale Spiel?
Das Fehlen digitaler Spiele im Schulunterricht aller Schulformen und Altersstufen hat verschiedene Ursachen. Allen voran bleibt festzustellen, dass es dafür nicht genügt, digitale Spiele von offizieller Seite aus als Kulturgut zu verankern. Im öffentlichen Diskurs kommen Spiele vor allem dann vor, wenn es um Gewaltverherrlichung oder ihr Suchtpotential geht. Damit gelten Spiele gemeinhin eher als Gefahr denn als potentielle Bildungschance. Solange solche gesellschaftlichen Stigmata auf den Produkten, sowie auf SpielerInnen lasten und ihnen mit allgemeinen Vorurteilen gegenüber getreten wird, ist eine gewinnbringende und kompetenzorientierte Nutzung in der Schule schwierig.
Dazu kommt, dass vor allem ältere Lehrkräfte in ihrem privaten Umfeld noch nicht mit digitalen Spielen in Kontakt gekommen sind, da diese oftmals nicht zu ihrer Sozialisation gehörten. Während SchülerInnen mit dem Medium groß geworden sind, fühlt es sich für LehrerInnen oft fremd an, mit solchen Gegenständen zu arbeiten. Daher ist es erstmal eine menschliche Reaktion, auf Bekanntes und Bewährtes zurückzugreifen. Vielmehr als Literatur bieten digitale Spiele für Lehrkräfte Einstiegshürden – sei es das Mehr an technischem Aufwand oder die Angst, mit dem Medium weniger Erfahrung zu haben als die, die eigentlich unterrichtet werden sollen.
Darüber hinaus haben bisher nur wenige Wissenschaftler und Lehrkräfte digitale Spiele didaktisch und methodisch aufbereitet. Wenn Lehrkräfte auf das Medium im Unterricht zurückgreifen wollen, stoßen sie aktuell vor allem auf dieses Problem. Es fehlen Konzepte für die Unterrichtsgestaltung mit Spielen und es besteht kaum Zugriff auf bisher gemachte Erfahrungsschätze von Kolleginnen und Kollegen. Zwar existieren bereits erste Versuche, diesem Mangel entgegenzutreten (z.B. der Best-Practice-Kompass der Landesanstalt für Medien NRW), doch selbst diese setzen sich kaum inhaltlich mit dem Medium „digitales Spiel“ auseinander. Auch rein pragmatische Zugriffsweisen auf Erzählstruktur und Handlung von Spielen existieren bisher kaum. Um das volle Potential digitaler Spiele nutzen zu können, ist es allerdings nötig, die verschiedenen Spielformen, den Literaturgenres ähnlich, aufzuarbeiten, ihre spezifischen Muster und Strukturen herauszustellen und somit für den Einsatz z.B. im Deutschunterricht nutzbar zu machen.
Welche Aufgabe stellt sich also laut Jan Boelmann?
– Die Didaktisierung des digitalen Spiels und Erarbeitung einer genreorientierten Erzähltheorie ist notwendig.
Die Stiftung Digitale Spielekultur sieht darüber hinaus auch die folgende Anforderung:
– Digitale Spiele sollten sowohl im privaten als auch im professionellen Kontext Lehrkräften näher gebracht und deren Vorzüge vermittelt werden.
Kompetenzen erspielen – warum das digitale Spiel?
Ein Einsatz von digitalen Spielen im Schulunterricht ist in allen Schulen niedrigschwellig umsetzbar, sofern die Schulen über eine einigermaßen zeitgemäße Ausstattung verfügen. Gerade ältere Spiele oder Adventures benötigen oftmals keine teuren High-End-Geräte, sondern laufen auf durchschnittlichen Rechnern. Diese sollten in den meisten Schulen heutzutage vorhanden sein, da diese auch für andere Aufgaben und Projekte in den Schulen benötigt werden.
Auch in den Lehrplänen ist ein Einsatz von Spielen nicht ausgeschlossen, sondern durchaus als Mittel zur Kompetenzvermittlung oder –anwendung vorgeschlagen.
Warum sollten Lehrkräfte nun diese Möglichkeiten nutzen und Spielen Einzug in deutsche Klassenzimmer gewähren?
Ein primärer Grund liegt darin, dass viele digitale Spiele heute hochwertige Handlungen, Charaktere und Inhalte bieten. Einige große Entwickler wie etwa Bioware beschäftigen eigens für ihre Spiele Autoren und Lore-Designer, die sich mit der Gestaltung der Hintergrundgeschichten der virtuellen Welt beschäftigen. Auch weniger finanzstarke Projekte beinhalten allerdings oft wertvolle Geschichten. Diese SchülerInnen vorzuenthalten, weil sie nicht in Buch- sondern in Spiele-Form veröffentlicht wurden, sollte nicht Ziel deutscher Bildung sein.
Hinzu kommt, dass viele SchülerInnen Erfahrungen mit diesem Medium machen und auch weiterhin machen wollen, unabhängig davon, ob es Lerngegenstand in der Schule ist. Digitale Spiele im Unterricht heranzuziehen, stellt folglich auch einen Bezug zur Lebenswelt der Kinder her. Es sollte vermieden werden, Kinder und Jugendliche mit dem digitalen Spiel komplett alleine zu lassen. Freilich bedeutet dies nicht, auch das Spielen im Privaten didaktisieren oder gar überwachen zu wollen. Allerdings ist es wichtig, ihnen die benötigten Kompetenzen mit auf den Weg zu geben, digitale Spiele bewerten, analysieren und interpretieren zu können.
Ein weiteres Argument für das Spiel ist bildungspraktischer Natur. Mediennutzungsstudien zeigen vermehrt, dass es bei Jugendlichen immense Unterschiede bei der Nutzung von Printmedien außerhalb des Schulunterrichts gibt. Während bildungsnahe Kinder und Gymnasiasten sogar recht regelmäßig lesen (Mädchen sogar sehr häufig), lesen vor allem bildungsferne Gruppen und Kinder aus niedrigeren sozialen Schichten nur widerwillig oder sogar gar nicht (vgl. KIM-Studie 2014). Findet nun jedoch der Literaturunterricht primär anhand von Printmedien statt (was laut Bildungsplänen zugegebenermaßen gar nicht mehr geschehen sollte), folgt eine ungleiche Förderung der Schülerinnen und Schüler. Während eine bestimmte, literaturnahe Schülerschicht dadurch immense Leistungssteigerungen erzielen kann, werden nicht-lesende Schüler durch einen derartigen Unterricht benachteiligt, was teilweise auch in Leistungsverweigerung endet. Multimediales literarisches Lernen kann hingegen die Motivation von SchülerInnen erhöhen und dabei die Lebensweltrelevanz des Verstehens von Geschichten in allen Medien aufzeigen, was letzten Endes zu einer Steigerung der Lernbereitschaft führt. Ergänzen digitale Spiele den Literaturunterricht, ermöglicht dies auch leseschwachen SchülerInnen oder solchen aus literaturfernen Elternhäusern, relevante Kompetenzen für ihre schulische und berufliche Laufbahn zu erwerben. Somit ist ein multimedialer Literaturunterricht nicht nur didaktisch sinnvoll, sondern trägt auch ein Stück weit zur Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem bei.
Spielen erfordert von SchülerInnen, das jeweilige Medium aktiv zu rezipieren. Es ist kaum möglich, in einem Story-basierten Spiel voran zu kommen, wenn die Inhalte ignoriert werden. Verweigert man sich der Interaktion vollständig, stoppt auch die Geschichte. Somit bietet und fordert das Medium Spiel im Gegensatz zu anderen klassischen Unterrichtsmedien Interaktivität und schließt passiven Konsum aus. Das digitale Spiel wird dabei für SchülerInnen zur erspielten Geschichte, in dem sie selbst eine tragende Rolle spielen. Darüber hinaus erhöht der Einsatz von Spielen tendenziell die Rezeptionsmotivation, da das Spiel als Freizeitmedium bekannt ist und damit oft positive Assoziationen verknüpft sind.
Konkret: Der Einsatz des digitalen Spiels im Deutschunterricht
Wie kann eine Lehrkraft nun konkret digitale Spiele im Unterricht einsetzen und worauf sollte sie achten?
Wichtig ist vorab, dass nicht jedes digitale Spiel für einen Einsatz im Literatur- bzw. Deutschunterricht in Frage kommt. Geeignet sind Spiele, die narrative Elemente beinhalten, da dies essentiell für die Förderung des literarischen Lernens ist. Dies beinhaltet vor allem, aber weder ausschließend noch allumfassend, Spiele aus den Bereichen Shooter, Rollenspiele, Adventures und Strategiespiele. Dies bedeutet nicht, dass andere Spiele oder ausgeschlossene Genre-Vertreter generell nicht für den Schulunterricht geeignet sind. Minecraft lässt sich hervorragend in verschiedenen schulischen Szenarien anwenden, ist jedoch einfach ein eher ungeeignetes Medium für den Literaturunterricht.
Die Unterscheidung zwischen narrativen und nicht-narrativen Spielen muss daher vorab getroffen werden. Gemäß Jan Boelmann sind narrative Spiele definiert als:
Computerspiele, die eine Geschichte erzählen, die bereits vor Rezeptionsbeginn festgelegt ist, und welche sich auch in verschiedenen Rezeptionsdurchgängen nicht maßgeblich verändert und darüber hinaus eine im weitesten Sinne komplexe Handlungsstruktur aufweisen, die den Einsatz verschiedener Analysemethoden ermöglicht.
Dadurch, dass diese Eigenschaften festgelegt sind, wird es möglich, digitale Spiele didaktisch und methodisch aufzubereiten und anschließend mit literaturwissenschaftlicher Methodik zu analysieren.
Andere Spiele scheiden aus unterrichtspraktischen Gründen aus. Spiele wie etwa die Dragon Age-Reihe oder die Mass Effect-Trilogie (beides Bioware) stechen zwar aufgrund detaillierter Geschichten und Charaktere hervor und böten vor allem für die Sekundarstufe II vielfältige Analyse- und Diskussionsansätze, lassen sich aber durch ihren enormen Umfang in den Schulunterricht aus Zeitmangel nicht integrieren.
Bezieht man daher unterrichtspraktische und zeitliche Aspekte in die Überlegungen mit ein, eignen sich daher besonders narrative, digitale Spiele, die eine klar und logisch erzählte Geschichte beinhalten, aber dabei in einem zeitlich überschaubaren Rahmen ablaufen. Das Point-and-Click-Adventure The Book of Unwritten Tales (King Art Games) beispielsweise erzählt eine stringente Geschichte, welche sich vom Umfang her für den Unterricht eignet. Hervorzuheben ist der Rätselcharakter des Spiels, so dass SpielerInnen aufmerksam zwischen den Zeilen lesen müssen, um alle Hinweise aufzunehmen und somit konzentrierte (Sprach-) Arbeit notwendig ist.
In einer empirischen Untersuchung in einer 8. Klasse eines Gymnasiums wurde die Möglichkeit des digitalen Spiels untersucht. Der Einsatz von Literatur und digitalen Spielen wurde gegenübergestellt, indem vergleichbare Aufgaben zu Passagen beider Medien gestellt wurden. Alle SchülerInnen arbeiteten erst mit einem Kurztext und anschließend mit dem Strategiespiel Warcraft III. Es konnte nachgewiesen werden, dass erstens die Wahl des Mediums nur von nachgeordneter Priorität für das Leistungsvermögen bezüglich literarischen Verstehens ist, sofern die Rahmenvoraussetzungen (Text- und Aufgabenschwierigkeit, Beurteilungskategorien) sich ähneln. Zweitens zeigte die Untersuchung, dass selbst Jugendliche, die ohne digitale Spiele sozialisiert wurden, keine messbare Benachteiligung durch das neue Unterrichtsmedium erleiden.
Mögliche Aufgabentypen sind vielfältig. SchülerInnen können beispielsweise Figurenexpositionen oder Charakterisierungen zu Figuren aus dem Spiel entwerfen, sich Vorgeschichten oder einen eventuellen Fortgang der Geschichte überlegen, alternative Enden entwickeln oder kreativ schreiben, etwa durch das Verfassen eines Briefes von dem Protagonisten an einen Nebencharakter. Auch das Erstellen von Sachtexten ist möglich, indem etwa erfüllte Quests oder gelöste Rätsel nachträglich in einen Bericht oder in einen Lösungstext umformuliert werden.
Die Stiftung sieht darüber hinaus weitere Chancen digitaler Spiele, etwa zur Anschlusskommunikation, indem sich SchülerInnen und Lehrkräfte nach dem Spielen über das Spiel austauschen, Handlungsoptionen und Vorgehensweise diskutieren und den Inhalt des Spiels analysieren, interpretieren und reflektieren.
Digitale Spiele bieten folglich Potentiale für den Schulunterricht, die die aktuelle Unterrichtspraxis sinnvoll erweitern und ergänzen können. Daher kann eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Phänomen „digitales Spiel“ für Pädagogen, Eltern und Erzieher äußerst gewinnbringend sein.
Dies ist eine zusammengefasste und verkürzte Version aus den folgenden Artikeln. Für weitergehende und vertiefende fachliche Auseinandersetzung sind diese Artikel daher ausdrücklich empfohlen:
Boelmann, Jan M.: Literarische Kompetenz und narrative Computerspiele – Empirische Ergebnisse. In: Boelmann, Jan und Andreas Seidler (Hrsg.): Computerspiele als Gegenstand des Deutschunterrichts. Peter Lang 2013, 85 – 102.
Boelmann, Jan M.: Narrative Computerspiele im Literaturunterricht – The book of unwritten tales als Gegenstand literarischen Lernens. In: Jost, Roland und Axel Krommer (Hrsg.): Comics und Computerspiele im Unterricht. Schneider Hohengehren 2011, 120 – 137.
Boelmann, Jan M.: Literarisches Verstehen mit narrativen Computerspielen: Eine empirische Studie zu den Potenzialen der Vermittlung von literarischer Bildung und literarischer Kompetenz mit einem schüleraffinen Medium. KoPaed München 2015.
Weitere empfehlenswerte Links:
Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen: Best-Practice-Kompass: Computerspiele im Unterricht. URL: http://www.lfm-nrw.de/medienkompetenz/projekte-materialien/computerspiele/best-practice-kompass-computerspiele-im-unterricht.html.
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: KIM-Studie 2014. URL: http://www.mpfs.de/index.php?id=646&L=0%2F.