The Last Express
Im Stile einer klassischen „Who Dunnit“-Erzählung gilt es für die Spieler*innen in The Last Express Morde an verschiedenen Passagieren aufzuklären. Durch das historische Spielsetting, nämlich wenige Tage vor dem Ersten Weltkrieg, rückt das Spiel neben persönlichen Motiven auch internationale Konflikte und das Thema des Klassenkampfs in den Fokus der Handlung.
Trailer
Erinnerungskulturelle Einordnung
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Wenige Tage bevor der erste Weltkrieg losbricht und den Beginn des „kurzen 20. Jahrhunderts“ (1914-1989) markiert, verlässt ein letztes Mal der „König der Züge“ Paris Richtung Konstantinopel und verwickelt die Spieler*innen in eine klassische „Who Dunnit?“-Erzählung: ein weiterer „Mord im Orientexpress“. Die so auf Zugabteile und Fahrplan beschränkte Spielwelt ist dicht verwoben mit den historischen Umständen und macht die Zugwaggons zur äußerst lebendigen Spielwelt. Denn sie ereignet sich unabhängig von den Aktionen, die man in Person eines Amerikaners tätigt, durch dessen Augen man in der Regel die Geschehnisse wahrnimmt. Je nachdem auf welche Gespräche mit der internationalen Reisegesellschaft man sich einlässt, welche der gleichzeitig stattfindenden Dialoge man belauscht und welche Indizien man aus unbeaufsichtigten Abteilen zu sammeln vermag, ereignen sich verschiedene Erzählstränge und Resultate. Das Ziel ist den Mordfall aufzuklären und mitunter auch lebensbedrohliche Situationen durch richtiges Timing zu meistern. Bisweilen wechselt die Ansicht in eine Zuschauerperspektive und verweist uns damit auf unsere eigentliche Rolle als Betrachter eines vertrauten Hollywoodstreifens mit unbekanntem Plot.
Erinnerungskulturelle Bedeutung
Der Abspann läuft vor einer animierte Europakarte des 20. Jahrhunderts ab, welche die sich wandelnden Grenzverläufe zeigt. Damit macht das Spiel seinen erinnerungskulturellen Anspruch überdeutlich; mit dem Gewicht filmischer Ästhetik wird ein dichtes Panorama einer Zeitenwende geschaffen. Die Zugreise als Leitmotiv – mitunter mediale Voraussetzung für den filmischen Blick – kann als Ikone des Fortschritts gelten mitsamt katastrophischer Implikationen.
Jordan Mechner, der eigentlich Drehbuch-Autor werden wollte, verarbeitet seine Vorliebe für Film technisch durch den Einsatz des Rotoskopie-Verfahrens, wie schon zuvor in Prince of Persia (1989). Echte Darsteller mimten das Geschehen, welches wir in The Last Express nachvollziehen. Im Unterschied zu vergleichbaren Adventures, durch deren Spielräume man mittels der narrativen Logik navigiert, ist dieses Setting explizit historisch – also keine Utopie, wie das zur Gänze aus 3D-Grafiken gerenderte Myst (1993), oder geliehene Science-Fiction, wie im Computerspiel zu Blade Runner (1997). Dies zeigt, wie digitale Interactive Fiction filmische Bildlichkeit imitiert, da dem erwachsenen Medium „Film“ eher eine geschichtsvermittelnde Autorität zugebilligt wurde, die vom jüngeren Medium „Videospiel“ visuell nachgeahmt und interaktiv durchdrungen wird, um so einen Authentifizierungseffekt zu erzielen, also der eigenen Erzählung Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Diskussionspunkte
Wenn nun laufend beteuert wird, dass digitale Spiele mehr Aufmerksamkeit verdienen, wenn sie schon die Filmbranche in puncto Marktdaten längst überholt hätten, so scheint dies notwendigerweise zu geschehen, da sich doch prinzipiell das Spiel erst den dokumentarischen Stil des Films aneignen musste: Abseits dieser charakteristischen Grafik bleibt von diesem cinematischen Stil noch die spielmechanische Realisierung eines manipulierbaren Zeitstrahls, entlang dessen Zeit verräumlicht wird, um gegebenenfalls andere Weichen für die Plotentwicklung zu stellen.
The Last Express ist ein herausragendes Beispiel für diesen Prozess der historischen Authentifizierung durch filmische Stilmittel: Zur Darstellung gelangt nicht eine Geschichtssimulation, die je nach Spielereingabe andere territorialen Verschiebungen errechnet. Stattdessen geht es um die plausible Darstellung vom dichten Nebeneinander von Klassenkampf, nationalen Konflikten und persönlichen Interessen, die an Bord des transkontinentalen Zugs zu einem anschaulichen Arrangement gekoppelt sind: Das detailgetreu nachgebildete Art Deco des Orient Express’ wird durch Interaktivität zum hyperrealistischen Bühnenbild, das die Möglichkeiten asymmetrischer Kriegsführung in Szene setzt: Waffenschmuggel, Bombenattentate, Zugentführung und Spionage entfalten Sprengkraft in moderner Öffentlichkeit, an die jene Geschehnisse aus den Zugabteilen dringen, so wie er zum Stehen kommt, innerhalb dieser über subjektive Geschichtsmächtigkeit in der Moderne spekuliert – doch mit immergleichem Ergebnis: Der historische Rahmen bleibt unverändert und an der Endstation angekommen erfährt man vom unvermeidlichen Ausbruch des Weltkriegs, der als Drohkulisse schon im Spielverlauf anklingt.
Einsatzmöglichkeiten
The Last Express ist für ein Adventure anspruchsvoll und verlangt beträchtliche Involvierung, wodurch es nicht einfach auszuprobieren ist. Im besten Fall verliert man sich im Detail der lebendigen Spielwelt, was einem zügigen Abwickeln des Geschehens widerspricht. Didaktisch ist es am besten als computerspiel-historischer Meilenstein verstanden: Von den allgemeinen Schwierigkeiten so einen Spielklassiker zum Laufen zu bringen und damit eine ästhetisch einzigartige Geschichtserfahrung zu fingieren, lässt sich immerhin auf den wörtlichen Modus historischer Vermittlung, den Augenzeugenbericht, reflektieren. Im Spiel sind die narrativen Plausiblisierungsverfahren aufgehoben, so wie sie in den 90er-Jahren beim Publikum Anschluss finden konnten. Durch den betont filmischen Stil sind aus dem Spiel entnommene Ausschnitte leicht verdaulich und gut zu zitieren.
Andererseits liefert The Last Express eine beeindruckend detaillierte Welt, welche die inhärente Widersprüchlichkeit von spielerischem Nachvollzug und historischer Faktizität deutlich macht. Das nicht weiter vermittelbare Spielerlebnis ist daher jedem anempfohlen als Leistungsschau digitaler Erzähltechnik. Insofern steht dieses Spiel anschaulich sowohl für die heißlaufende, dampfbetriebene Moderne als auch für ihre digitale Remediation.
Weiterführendes Material
- Bolter, Jay David, und Richard Grusin. Remediation: Understanding New Media. 4. Aufl. Cambridge: MIT Press, 2001.
- Mechner, Jordan. The Making of Prince of Persia: Journals 1985 – 1993: CreateSpace Independent Publishing Platform, 2011.
- Schivelbusch, Wolfgang. Geschichte der Eisenbahnreise: zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2018.
Zitierempfehlung
Huber, Simon. „The Last Express“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 15.12.2021. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]