Spielcover: Night Call

Night Call

Als arabischer Taxifahrer Houssine müssen die Spieler*innen in Night Call vornehmlich während ihrer Fahrten durch Paris und durch Gespräche mit ihren Fahrgästen eine*n Serienmörder*in identifizieren. Zugleich werden sie durch die Dialoge mit diversen gesellschaftsrelevanten Themen, wie Marginalisierung, Rassismus oder Vereinsamung, konfrontiert.

Allgemeine Infos

  • Entwickler: Monkey Moon / BlackMuffin Studio (Frankreich)
  • Publisher: Raw Fury
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Genre: Adventure
  • Thema: 21. Jahrhundert, Flucht und Migration
  • Zugänglichkeit: Deutsche Sprachversion, Englische Sprachversion
  • Vermittlungspotenzial Mittel
  • Zeitaufwand Mittel
  • Komplexität Gering
Erklärungen zur Bewertung

Trailer

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Erinnerungskulturelle Einordnung

Autor: Karen Scharmann

Karen Scharmann studiert Kulturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Geschichte. Neben Antisemitismus beschäftigt sie sich mit Nordamerikanischer Geschichte und Diaspora.

In Night Call übernehmen Spieler*innen die Rolle des arabischen Einwanderer Houssine, der sein Geld als Taxifahrer im nächtlichen Paris des 21. Jahrhunderts verdient. Die Stadt wird erschüttert von Serienmorden, die Spielende im Rahmen von drei kurzen Kampagnen, die jeweils eine Woche im Spiel umfassen, aufklären. Indizien und Informationen über die Morde können sowohl offen, anhand von Markern auf der Karte, als auch versteckt in Gesprächen mit den Fahrgästen gesammelt werden. Das Spiel verfügt über keine Sprachausgabe, sämtliche Gespräche und Interaktionen sind textbasiert. In kurzen Dialogen werden Spieler*innen mit den Alltagsgeschichten, Sorgen und Schicksalen diverser Charaktere konfrontiert. Durch mehrmaliges Abholen desselben Fahrgastes werden neue, persönliche Gespräche freigeschaltet. Night Call beinhaltet zudem einen leichten Survival-Aspekt, der durch die Wahl des Schwierigkeitsgrads beeinflusst wird. Spielende müssen die Einnahmen und Ausgaben im Blick behalten, denn verdient Houssine zu wenig Geld, verliert er seinen Job und die Kampagne endet. Am Ende einer Schicht werden die gesammelten Hinweise auf einer Pinnwand befestigt und können von den Spieler*innen verschoben werden. Ziel jeder Kampagne ist es, unter fünf Verdächtigen den Mörder zu entlarven.

Erinnerungskulturelle Bedeutung

Auch wenn Night Call auf den ersten Blick wie ein Detektivspiel erscheint, tritt die Suche nach den Mördern schnell in den Hintergrund. Spieler*innen werden durch die Fahrgäste mit komplexen Themen konfrontiert, die nicht nur aktuelle politische Geschehnisse umfassen, sondern von rassistischen Anfeindungen bis hin zu psychischen Erkrankungen ein breites Spektrum abdecken.

Night Call sticht vor allem dadurch hervor, dass die Erzählungen authentisch wirken. Betroffene kommen selbst zu Wort; so berichtet eine ältere Dame über ihre Tourette-Erkrankung, eine Studentin aus Indien über Zwangsheirat, eine Krankenschwester über ihren im Koma liegenden Sohn und ein junger E-Sportler über Uiguren und sein Verhältnis zu China. Jede Fahrt ist eine kurze Episode, die Spieler*innen unvermittelt und intensiv mit Problematiken wie Sucht, Migration, Tod, Einsamkeit oder Vertreibung konfrontiert und dabei ein breites Licht auf unsere Gesellschaft wirft.

Auch der Protagonist Houssine berichtet über alltäglichen Rassismus und die Anfeindungen, die ihm als Muslim in Paris begegnen. Zwar bezieht sich Night Call mit Themen wie dem Kolonialismus in Algerien direkt auf Frankreich, bietet darüber hinaus jedoch eine Diversität, die keiner Standortgebundenheit unterliegt. Die Gesellschaft und ihre Probleme, die das Spiel beleuchtet, sind jene des 21. Jahrhunderts, die nicht nur in Frankreich, sondern weltweit verortet sind.

Diskussionspunkte

Obwohl Night Call mit authentisch inszenierten Erzählungen glänzt, bleiben diese oberflächlich. Die Dialogoptionen sind begrenzt, sodass die Gespräche auch beim wiederholten Abholen des Fahrgastes wie Streiflichter wirken. Eine tiefere Auseinandersetzung mit den Themen findet nicht statt. Auch wenn das in den Alltag eines Taxifahrers zu passen scheint, entpuppt es sich als verpasste Chance. Spieler*innen werden mit den Problematiken allein gelassen, die sich ohne historische, politische oder medizinische Kenntnisse oftmals schwer einordnen lassen. Die Authentizitätseffekte werden zudem durch das Auftreten von Außerirdischen, Geistern und Zeitreisenden gebrochen, die wie Fremdkörper in den Storys wirken.

In der internationalen Presse rief Night Call gemischte Reaktionen hervor. Der Hauptkritikpunkt liegt dabei auf der Detektivmechanik, die Spielenden wenig Freiheit bietet. Jede Kampagne beginnt mit derselben Sequenz und verläuft nach demselben Muster. Das Aufdecken aller Fahrgäste und Geschichten erweist sich als Fleißarbeit, die im Rahmen der Kampagnen unmöglich sind und ein Spielen im sogenannten ‚Freien Fahren‘-Modus zwingend notwendig machen.

Einsatzmöglichkeiten

Night Call bietet ein spielerisch anspruchsloses, aber thematisch komplexes Erlebnis. Vor allem älteren Schüler*innen wird dabei ein gesellschaftskritischer Einblick in das Leben und die daraus entstehenden Probleme im 21. Jahrhundert geboten. Jede Kampagne umfasst ca. 2-3 Stunden Spielzeit, die sich durch den Aufbau in Nachtschichten in kleinere Zeiteinheiten einteilen lassen. Didaktisch bietet das Spiel viele Ansatzpunkte, die von Lehrenden jedoch kontextualisiert werden müssen. Die Geschichten der Fahrgäste könnten als Einstieg in die intensive Auseinandersetzung einzelner Themen dienen. Auch wenn die technischen Hardware-Anforderungen gering sind, ist der gezielte, thematische Einsatz aufgrund der Spielmechaniken nur durch zusammengeschnittenes Videomaterial oder im ‚Freien Fahren‘-Modus ohne Zeitdruck möglich. Darüber hinaus eignet sich Night Call jedoch sehr gut, um alltägliche, gesellschaftliche Probleme wie Diskriminierung aufzuzeigen und durch den Bruch mit Stereotypen auf vielfältige Weise deutlich zu machen.


Weiterführendes Material

Argüello, Diego Nicolás. „Night Call Review: Stories That Last Everlong“. GameSkinny, zuletzt aufgerufen am: 12.05.2022.

Braida, Nicole. „Migrating Through the Web: Interactive Practices About Migration, Flight and Exile“. Bielefeld: transcript Verlag, 2022.

Moch, Leslie Page. „Frankreich“ In: Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, herausgegeben von Christine Langenfeld, Jochen Oltmer, Leo Lucassen, Klaus J. Bade und Pieter C. Emmer, 122-140. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag/Ferdinand Schöningh Verlag 2010.

Tardis, Matthieu. „We have enough to deal with at home! France and the refugee crisis.“ Beitrag für das Dossier „Crossing borders – refugee and asylum policy in Europe“ der Heinrich-Böll-Stiftung, 16 Juni 2016, zuletzt aufgerufen am: 12.05.2022.

Zitierempfehlung

Scharmann, Karen. „Night Call“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 31.05.2022. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]

Förderer

Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Migration Lab Germany aus Mitteln der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus und der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gefördert.