Jessika
In Jessika begeben sich Spieler*innen auf die Spuren einer jungen Frau desselben Namens, die vor kurzem Suizid begangen hat. Dazu durchsuchen Spieler*innen auf einem virtuellen Laptopbildschirm Jessikas Dateien und insbesondere eine Reihe ihrer Videologs. Dabei tritt zunehmend ihr Abgleiten in rechtsradikale und militante Kreise in den Vordergrund.
Trailer
Erinnerungskulturelle Einordnung
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In Jessika begeben sich Spieler*innen auf die Spuren einer jungen Frau desselben Namens, die vor kurzem Suizid begangen hat und deren Vater nun nach Antworten sucht. Dazu durchsuchen Spieler*innen als Mitarbeiter*in einer auf solche Situationen spezialisierten Firma auf einem virtuellen Laptopbildschirm Jessikas Dateien und insbesondere eine Reihe Videologs, die sie von sich aufgenommen hat. Die Spieler*innen müssen nun jeweils die richtigen Suchbegriffe erraten, um so immer mehr Dateien zu entschlüsseln und so nach und nach Jessikas Geschichte aufzudecken. Die Clips, die Spieler*innen sich nun ansehen können, sind meist frontal aufgenommene, zwischen einer halben und einer Minute dauernde Videos, in denen Jessika (gespielt von Lisa Sophie Kusz) aus ihrem Leben erzählt. Die Themen sind anfänglich recht harmlos, ehe die Hauptfigur nach und nach immer weiter in rechtsradikale und militante Kreise, die laut den Entwickler*innen vom NSU inspiriert sind, abgleitet. Am Ende des etwa 2-6 Stunden dauernden Spiels wird schließlich auch der Spieler*innen-Avatar Opfer eines Bombenanschlags dieser militanten Gruppe.
Bitte beachten Sie bei dem Spiel folgende Content Warning: Sexualisierte Gewalt, Alkoholismus, rassistische Slurs, rechtsradikale Gewalt.
Erinnerungskulturelle Bedeutung
Das Spiel versucht beispielhaft seinen Spieler*innen vom Weg einer jungen Frau immer tiefer in ein rechtsradikales Umfeld zu erzählen. Dabei konzentriert sich die in Videos erzählte Handlung ganz gezielt auf das Thema der Radikalisierung, auch wenn weitere Themen wie etwa Alkoholismus gestreift werden. Spielmechanisch knüpft dabei Jessika primär an Her Story (2015) an, das als eine Art interaktiver Film mit Clips aus Verhören eine Kriminalgeschichte erzählt, greift aber auch Spielmechaniken wie Chats mit Kolleg*innen des Spieler*innenavatars und einen virtuellen Desktop auf, die auch schon zuvor in Titeln wie Orwell (2016) genutzt wurden. Jessika hebt sich durch die direkte Thematisierung eines rechten Radikalisierungsprozesses, insbesondere aus einer explizit deutschen Perspektive, von diesen Spielen ab. So gibt es z. B. einen Clip, in dem Jessika schließlich offen davon erzählt, „damals“ nicht dabei gewesen zu sein, aber „stolz“ auf das zu sein, was sie „unsere Geschichte“ nennt. Damit zieht das Spiel einerseits Parallelen zu realen, rechtsradikalen Gruppen und Codes, bleibt allerdings in der Benennung der ideologischen Grundlagen gleichzeitig jenseits von losen Kategorien wie „Vaterland“ und „Familie“ meist eher vage und nimmt so nie Bezug auf nur eine einzelne Gruppe im Speziellen.
Diskussionspunkte
Da Jessika einerseits ideologisch weitgehend vage gehalten ist, um beispielhaft das Abgleiten in unterschiedliche rechtsradikale Gruppen zu erzählen, andererseits aber auch versucht, die Geschichte einer „ganz normalen, jungen Frau“ zu erzählen, bewegt sich das Spiel ganz automatisch in einem Spagat aus Individualisierung und (analoger) Radikalisierung. So lässt sich Jessikas Geschichte durch die Reihenfolge, in der die Videos und Dateien freigeschaltet werden können, auch als die Geschichte einer Frau lesen, die primär ausgehend vom Trauma einer Vergewaltigung durch eine Vertrauensperson und eine unglückliche Kindheit in rechtsradikale Milieus abrutscht. Ebenso wird auch Jessikas Ton mit ihrer fortschreitenden Radikalisierung immer aggressiver und sie benutzt verstärkt z. B. offensichtlich rassistische Begriffe. Dadurch ist das Spiel in seiner These sehr deutlich, hat allerdings gleichzeitig Schwierigkeiten, z. B. subtilere Formen von Rassismus als ideologische Basis für Jessikas fortschreitende Militanz zu erzählen, während konkrete Ereignisse in ihrer Biographie wie etwa die Vergewaltigung dagegen leicht als auslösende und Mitleid erweckende Ereignisse gelesen werden können. Dazu kommt, dass das Spiel auch digitalen Radikalisierungsprozessen und damit in Verbindung stehenden Phänomenen wie z. B. GamerGate (vgl. Keinen Pixel 2020) wenig Aufmerksamkeit schenkt.
Einsatzmöglichkeiten
Für einen pädagogischen Einsatz des gesamten Spiels ist sicher eine ausführlichere Kontextualisierung nötig. Die Perspektivität durch die Konzentrierung auf Jessika als Einzelperson lässt viele Leerstellen sowohl bei den ideologischen Merkmalen von Jessikas Umfeld als auch bei den anderen Formen dieser Ideologie. Damit ist Jessika als Person ein vielleicht anschauliches Beispiel, wird aber außerhalb der Strukturen erzählt, die sie erzeugen, was durch eine entsprechende Einordnung ergänzt werden muss. Begleitend sollte außerdem auf sexualisierte Gewalt sowie Alkoholismus und Suizid eingegangen werden, da diese Themen zwar z. B. mit Jessikas Vergewaltigung aufkommen, aber wenig eingeordnet werden.
Deshalb kann es sinnvoll sein, nur Teile des Spiels mit ausgewählten Themen gemeinsam zu spielen und diese Teile zu besprechen. Zwar ist Jessika spielmechanisch (Suchbegriffe, Videos, Spieldauer) als auch technisch (Hardwareanforderungen) leicht zugänglich, es gibt allerdings mehrfach Stellen, an denen verstörende Inhalte wie die erwähnte Vergewaltigung ohne Vorwarnung aufkommen. Gleichzeitig könnte der Prozess des Nachdenkens über die richtigen Suchbegriffe zur Entschlüsselung von Jessikas Dateien auch zu einer gemeinsamen Reflexion über die Elemente von Jessikas Radikalisierung genutzt werden, womit der direkte Spielvorgang im Zweifelsfall immer noch z. B. einem Let’s Play vorzuziehen ist.
Weiterführendes Material
- Bundeszentrale für politische Bildung, „Wie mit Rechtsextremen umgehen?“. bpb, 25.10.2016
- Keinen Pixel den Faschisten, „GamerGate, eine Retrospektive“. Keinen Pixel den Faschisten, 16.11.2020
- Prinz, „Was geschah mit Jessika?“. Belltower.News, 15. September 2020
- Strobl, Benjamin & Kathmann, Jessica, „Suizid und Radikalisierung in Jessika – Podcast E015“. Behind the Screens, 5.11.2020
Zitierempfehlung
Brandenburg, Aurelia. „Jessika“. Datenbank Games in der Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 24.06.2021. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]