SPielcover: Glasfäden

Glasfäden

Glasfäden widmet sich den Konsequenzen der friedlichen Revolution in der DDR aus Sicht der zahlreichen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen, von denen viele auch nach der Wende in Deutschland blieben. Durch seine multimediale Aufbereitung erzählt der interaktive Comic, unterstützt von Fotos und Videointerviews, persönliche Erfahrungen, die sowohl die deutsche Geschichte als auch die deutsche Migrationsgeschichte bis heute noch beschäftigen.

Allgemeine Infos

  • Entwickler: Causa Creations (Deutschland)
  • Publisher: ASA-FF
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Genre: Point-and-click
  • Thema: 21. Jahrhundert, DDR, Flucht und Migration
  • Zugänglichkeit: Deutsche Sprachversion, Kostenlos, Lehrmaterial vorhanden
  • Vermittlungspotenzial Hoch
  • Zeitaufwand Gering
  • Komplexität Gering
Erklärungen zur Bewertung

Trailer

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Erinnerungskulturelle Einordnung

Autor: Anh-Thu Nguyen

Anh-Thu Nguyen ist Forschungsstudentin an der Ritsumeikan Universität in Kyoto, Japan und beschäftigt sich mit Reisen und Tourismus in Videospielen.

Glasfäden widmet sich den Konsequenzen der friedlichen Revolution in der DDR aus Sicht der zahlreichen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen, von denen viele auch nach der Wende in Deutschland blieben. Durch seine multimediale Aufbereitung erzählt der interaktive Comic, unterstützt von Fotos und Videointerviews, persönliche Erfahrungen, die sowohl die deutsche Geschichte als auch die deutsche Migrationsgeschichte bis heute noch beschäftigen.

Gerahmt wird der interaktive Comic durch eine junge Viet-Deutsche, die rückblickend von der Einwanderungsgeschichte ihrer Mutter berichtet. Spieler*innen werden so durch eine Familiengeschichte geleitet, die sich über zwei Generationen spannt. Obwohl die Comic-Figuren namenslos bleiben, stehen sie stellvertretend für die Berichte der Mitwirkenden, von denen einige in Videointerviews selbst zu Wort kommen.

In insgesamt fünf Kapiteln werden zahlreiche Themen angesprochen: die politische Ordnung im sozialistischen Block, der günstige Arbeitskräfte in die DDR brachte, das plötzliche Ende der DDR und die damit verbundene Unsicherheit, rassistische Anfeindungen vor und nach dem Fall der Mauer, der Kampf um finanzielle Sicherheit und sozialen Aufstieg. Auch wird die Beziehung zwischen einer Mutter und Tochter in den Fokus gestellt, die trotz intergenerationaler Differenzen Zusammenhalt und Verständnis füreinander finden.

Erinnerungskulturelle Bedeutung

Auch wenn Deutschland als eine Einwanderungsgesellschaft verstanden wird, so wird der Diskurs häufig von westdeutschen Perspektiven dominiert. Die Rolle von Migrant*innen in Ostdeutschland spielt im Kontext von Immigration in Deutschland selten eine Rolle, noch viel weniger wird eine deutsche Identität mit der Migrationsgeschichte in Ostdeutschland verbunden.

Die Reise nach Deutschland, die teilweise prekären Arbeits- und Lebensbedingungen als günstige Arbeitskraft und die gewünschte Segregation von Vertragsarbeiter*innen werden aufgezeigt, ohne dass die Geschichte zu bedrückend wird. Ohnehin wurde von Vertragsarbeiter*innen mit dem Ablauf der Verträgen eine Rückkehr in die entsprechenden Heimatländer erwartet. Eine Erwartungshaltung, die mit dem Fall der DDR das Leben vieler Vertragsarbeiter*innen erschwerte. Existenzangst, anhaltender Rassismus sowie das fehlende Bleiberecht prägte das Leben vieler Vertragsarbeiter*innen im vereinigten Deutschland. Erst 1997 sollte das Bleiberecht neu geregelt werden, um einen zeitlich unbegrenzten Aufenthalt zu ermöglichen.

Die Perspektive der Tochterfigur im interaktiven Comic Glasfäden verdeutlicht das teils schwierige Verhältnis der zweiten Generation von Einwanderern gegenüber ihren Eltern, die durch ihre vollständige Sozialisierung in Deutschland bereits anders aufwuchs. Die intergenerationale Spannung kompliziert sich durch den fehlenden emotionalen Austausch mit Eltern, die selten über Migration oder Rassismuserfahrungen sprechen, stattdessen durch strenge Erziehung im jungen Alter ihren Kindern einen einfacheren sozialen Aufstieg ermöglichen wollen.

Diskussionspunkte

Auf die Fragen von Migration und Identität gibt es keine eindeutigen Antworten, vielmehr ist es ein vielschichtiger Prozess, der von Betroffenen sehr unterschiedlich navigiert wird. Das spiegelt sich ebenso in den vielseitigen Themen von Glasfäden wider: von der Reise in ein fremdes Land und Rassismus bis über die Beziehung zu Eltern als junge Erwachsene. Keineswegs werden all diese Facetten isoliert verstanden, sondern bedingen sich stets gegenseitig.

Durch das 30-minütige Format kann der interaktive Comic den umfassenden geschichtlichen Gegebenheiten nicht ganz gerecht werden, wie in etwa den Fall der DDR oder auch Vietnam, das durch den Vietnamkrieg zum sozialistischen Block gehörte. Zudem droht das neutrale bis fast positive Ende der Erzählung den Eindruck zu erwecken, dass jenseits von einer toleranten Gesellschaft auf individueller Ebene keine systematischen Änderungen (mehr) nötig sind. Dass geschichtliche Aufarbeitung, vor allem mit Blick auf antirassistische Bildung, ein aktiver, fortlaufender Prozess ist, sollte jenseits des Comics stärker verfestigt werden.

Glasfäden erzählt in nur wenigen Kapiteln eine ergreifende Geschichte zweier Frauen, die stellvertretend für zahlreiche vietnamesische Vertragsarbeiter*innen in Ostdeutschland stehen können und macht auf diese Weise ihr Leben im heutigen Deutschland sichtbar.

Einsatzmöglichkeiten

Die Themen Migration und Rassismus in Kontext ostdeutscher Geschichte werden durch die Tochterfigur von Glasfäden gerade für ein jugendliches Publikum zugänglich gemacht. Die zusätzliche Erzählebene, die die Beziehung zur Elterngeneration thematisiert, ist für jede*n Jugendliche*n ein relevantes Thema in ihrem Leben und kann daher Bezugspunkt sein, um größere Themenkomplexe zu erörtern, die andernfalls trockenes Lehrmaterial bleiben. Zudem ist der interaktive Comic als kostenlose Smartphone-App für iOS and Android-Systeme verfügbar und benötigt jenseits handelsüblichen Smartphones keine leistungsstarke Hardware. Durch die kurze Spieldauer lässt sich Glasfäden auch problemlos in einen Unterrichtsplan integrieren. Da die einfache Steuerung keine besonderen Fähigkeiten benötigt, ist die App auch für ein Publikum geeignet, das keinerlei Erfahrungen mit Computerspielen hat.

Das frei verfügbare Begleitheft auf der offiziellen Website ist zudem mit weiterführenden Informationen gefüllt, die das Leben von vietnamesischen Ostdeutschen fortführend kontextualisieren. Dieses Zusatzmaterial kann und sollte in einen Lehrplan eingepflegt werden, um dort die weiteren historischen und politischen Thematiken aufzugreifen.

Jenseits der historischen Komponente ist Glasfäden auch Teil von aktiver antirassistischer Bildung, die die Sensibilität für oft vernachlässigte Teile der deutschen Gesellschaft fördert sowie das Bewusstsein für Rassismus und dessen Konsequenzen verstärkt. Mit Blick auf aktuelle rechtsextreme Anschläge und Rhetoriken in Politik und Medien ist besonders antirassistische Bildung als Stützpfeiler deutscher Demokratie nötig.


Weiterführendes Material

Ha, Noa K. „Vietdeutschland und die Realität der Migration im vereinten Deutschland.“ Aus Politik und Zeitgeschichte 70, no. 28-29 (2020): 30-34.

Stephan, Esther. „Vietnamesen in Ostdeutschland: Was ist ihre Geschichte?“ Proudziert von MDR Fernsehen. August 12, 2021. Podcast, MP3-Audio 29:42.

Tran, Minh Thu und Vanessa Vu. „’Vossis‘ – Viets im Osten – Live vom Kosmonaut in Chemnitz.” Produziert von Zeit Online. Rice and Shine. Juli 15, 2019. Podcast, MP3-Audio, 35:47.

Tran, Minh Thu und Vanessa Vu. „Meine Mama, die Blumenfrau.“ Produziert von Zeit Online. Rice and Shine. December 15, 2020. Podcast, MP3-Audio 45:27.

Weiss, Karin. „Zwischen Rückkehr in die Heimatländer und Existenzsicherung vor Ort. Die Situation vietnamesischer Vertragsarbeiter 1989/90.“ bpb.de. Bundeszentrale für politische Bildung. März 5, 2021. Zugriffsdatum: Mai 22, 2022. https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/migrantische-perspektiven/325194/zwischen-rueckkehr-in-die-heimatlaender-und-existenzsicherung-vor-ort/

Zitierempfehlung

Nguyen, Anh-Thu. „Glasfäden“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 31.05.2022. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]

Förderer

Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Migration Lab Germany aus Mitteln der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus und der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gefördert.