Gerda: A Flame in Winter

Das Point-and-Click-Adventure Gerda: A Flame in Winter erzählt eine fiktive Geschichte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs während der deutschen Besatzung Dänemarks. Aus der Perspektive der Hauptfigur Gerda Larsen, decken die Spielenden das Doppelleben ihres inhaftierten Mannes auf, der Mitglied der örtlichen Widerstandsgruppe ist.

Allgemeine Infos

  • Entwickler: PortaPlay (Dänemark)
  • Publisher: Don't Nod
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Genre: Adventure, Role-Playing (RPG)
  • Thema: Holocaust, Nationalsozialistische Herrschaft, Widerstand
  • Zugänglichkeit: Deutsche Sprachversion, Englische Sprachversion
  • Vermittlungspotenzial Mittel
  • Zeitaufwand Mittel
  • Komplexität Gering
Erklärungen zur Bewertung

Trailer

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Erinnerungskulturelle Einordnung

Autor: Hannes Burkhardt

Hannes Burkhardt, Dr. phil., Studienrat und Educational Engineer am Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik der Europa-Universität Flensburg (EUF) als Mitarbeiter des Instituts für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH) im Rahmen des Landesprogramms „Zukunft Schule im digitalen Zeitalter“.

Das Point-and-Click-Adventure erzählt eine fiktive Geschichte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs während der deutschen Besatzung Dänemarks. Die Handlung spielt im Februar 1945 in der dänischen Kleinstadt Tinglev in der deutsch-dänischen Grenzregion, die bis 1920 zeitweise zum Deutschen Reich gehörte. Die Geschichte wird ausschließlich aus der Perspektive der Hauptfigur Gerda Larsen erzählt, die als Tochter eines deutschen Vaters und einer dänischen Mutter mit ihrem dänischen Mann Anders in einem Bauernhaus am Stadtrand lebt. Als die deutschen Besatzungsbehörden Anders nach einem Anschlag auf eine örtliche Fabrik verhaften, erfährt Gerda vom Doppelleben ihres Mannes: Denn Anders ist Mitglied der örtlichen Widerstandsgruppe. Ziel des Spiels ist die Befreiung Anders‘ aus der Gestapo-Haft. Dabei steht die Hauptfigur immer wieder vor moralischen Dilemmata: Wie weit ist Gerda bereit zu gehen, um ihren Ehemann zu befreien? Unterstützt sie den Widerstand oder arbeitet sie mit den Besatzern zusammen, wie es andere Bewohnerinnen und Bewohner der Kleinstadt tun?

Video-Kurzreview

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Erinnerungskulturelle Bedeutung

Hans von Knut Skovfoged, der Miteigentümer der Entwicklerfirma PortaPlay, hat sich bei der fiktiven Handlung von der Geschichte seiner Großeltern inspirieren lassen: Denn dessen Großvater war in einer Widerstandsgruppe nicht weit von Tinglev aktiv und infolgedessen Häftling im KZ Neuengamme und auch seine Großmutter schmuggelte als Widerstandskämpferin während der Besatzung Waffen (vgl. Thomsen 2022).

Tinglev liegt in der deutsch-dänischen Grenzregion Sønderjylland, die nach einer Volksabstimmung 1920 über den Grenzverlauf als „de sønderjyske landsdele“ Dänemark zugeschrieben wurde (vgl. Junge o.J.). Bis heute lebt hier eine große deutsche Minderheit, was sich auch daran zeigt, dass in Tinglev neben einer dänischen Schule auch die Deutsche Schule Tingleff sowie die Deutsche Nachschule Tingleff ansässig sind.

Mit Blick auf die Erinnerungskultur haben dänische und zudem international erfolgreiche Spielfilme wie „Unter dem Sand − Das Versprechen der Freiheit“ (Original: „Under sandet“, 2015), „9. April – Angriff auf Dänemark“ (Original: „9. April“, 2015) oder „Schatten in meinen Augen“ (Original: „Skyggen i mit øje“, 2021) auch in jüngster Zeit als populäre Produkte der Public History aus unterschiedlichen Perspektiven verschiedene Narrative der Geschichte Dänemarks unter deutscher Besatzung während des 2. Weltkriegs einem transnationalen erinnerungskulturellen Diskursraum zugänglich gemacht. Das Spiel „Gerda: A Flame in Winter“ widmet sich einer zentralen Thematik dieser deutsch-dänischen Geschichtsepoche: dem dänischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung. Der Historiker Matthias Bath spricht in diesem Zusammenhang von einem „Schock der Besetzung“, der in Dänemark heute „nach wie vor als latentes Trauma nachwirkt“ (Bath 2009, S. 11). Das Spiel kann als Versuch gelesen werden, diese bis heute nachhallende, tief ins kulturelle Gedächtnis Dänemarks eingeschriebene Erfahrung mit Fokus auf ihre komplexen v. a. moralischen Facetten auf eine innovative Art durch eine digitale, emotional-immersive Erzählung für historisches Lernen zugänglich zu machen. Denn den Spielenden wird im Verlauf des Games durch die komplexe Handlung sowie die vielen Figuren eine Reihe historischer Handlungsoptionen zwischen bedingungsloser Kollaboration und gewaltsamen Widerstand prototypisch angeboten. Die Hauptfigur Gerda muss immer wieder neu mit ihrem Gewissen ringen, um zu entscheiden, welchen moralischen Preis sie für die Freiheit ihres geliebten Ehemannes zu zahlen bereit ist.

Diskussionspunkte

Die durch das Game immer wieder plausibel inszenierten historischen Handlungsspielräume entstehen (1) durch die historische Situation in der dänischen Kleinstadt Tinglev im Februar 1945 unter deutscher Besatzung, (2) durch die persönlichen Beziehungen und biografischen Hintergründe der Personen im Umfeld der Hauptfigur Gerda sowie (3) durch die emotionalisierte Zielsetzung des Spiels (und der Hauptfigur): die Befreiung von Gerdas Ehemann Anders aus dem städtischen Gestapo-Gefängnis und später im Spiel aus dem Zug, der Anders in das KZ Neuengamme bei Hamburg bringen soll. Diese ebenso spannend und emotionalisierend – v. a. durch die Musik – wie komplex und überzeugend narrativ inszenierten Handlungsspielräume werden leider in eine etwas stumpfe Spielmechanik übertragen. Denn je nachdem, welche Entscheidung die Spielenden in den sprachlich aufwendig gestrickten Dialogen treffen, erhalten sie Plus- oder Minuspunkte für eine der „Fraktionen“: „Dänen“, „Deutsche“, „Besatzer“ oder „Widerstand“. Aus diesen Punktwerten für die einzelnen „Fraktionen“ ergeben sich in späteren Dialogen neue Handlungs- und Entscheidungsoptionen, die ebenfalls durch Punkte angezeigt werden. Im Ergebnis führt dies zu verschiedenen Spielverläufen, die auch unterschiedliche Enden des Spiels ermöglichen. So nachvollziehbar dieses Gamedesign aus der Sicht eines Spieleentwicklers ist, hätten die inhaltlich-historischen sowie didaktisch-pädagogischen Stärken des Spiels − nämlich die klug erzählten Chancen zum Nachvollzug, zur Analyse sowie zur Reflektion historischer Handlungsspielräume im spezifischen historischen Kontext − ohne diese dichotomen Engführungen in der Spielemechanik noch deutlicher ihre Potenziale als innovatives erinnerungskulturelles Produkt sowie als Medium zum historischen Lernen entfalten können.

Einsatzmöglichkeiten

Eine gewisse pädagogisch-didaktische Hürde stellen die emotionalen Geschichten des Games sowie die damit verbundenen moralisch aufgeladenen Gewissensentscheidungen dar. Die Frage, ob Lernende ab 12 Jahren (USK) tatsächlich im Rahmen von schulischen (oder außerschulischen) Lernsettings in solche digital inszenierten Gewissensentscheidungen geführt werden sollten, muss jeder Lehrende individuell in Bezug auf die Lernziele seiner Lerngruppe entscheiden.

Lässt man diese nicht einfach zu beantwortende Frage außen vor, ergeben sich eine Reihe von Möglichkeiten für historisches Lernen: Das Spiel inszeniert die heute noch für das kulturelle Gedächtnis Dänemarks bedeutende historische Situation der nationalsozialistischen Besatzung für die Altersgruppe nachvollziehbar, historisch angemessen sowie in einem aus der Perspektive der Praxis des historischen Lernens passenden Rahmen. Die vergleichsweise kurzen Spielszenen ca. (10 bis 20 Minuten) eigen sich auch für schultypische Lerneinheiten von 45/90 Minuten. Die an den Stil skandinavischer Impressionisten angelehnte Grafik (vgl. offizielle Spielbeschreibung) benötigt keine leistungsstarke PC-Hardware und auch In-Game-Käufe werden nicht angeboten. Die Chance liegt in der Dekonstruktion des Games als innovatives Produkt der (dänischen) Erinnerungskultur mit Lernenden. Gerade die etwas klumpige Polygonengrafik, die an die Playstation 1 erinnert, kann helfen, die nötige Distanz für die Analyse und Reflektion der medienspezifischen Inszenierung der historischen Entscheidungsräume und -möglichkeiten herzustellen. Der gelungene und zugleich auch für Lernende leicht zu beschreibende und zu erklärende Einsatz von Musik, um z. B. die Dramatik einer historischen (Entscheidungs-)Situation zu inszenieren, stellt einen möglichen Anknüpfungspunkt für eine altersgerechte Erschließung dar. Lernende können auf diese Weise im Rahmen von Medienanalysen die Konstruktion der digitalen Geschichtserzählung in „Gerda: A Flame in Winter“ beschreiben, erklären und beurteilen und so Sachkompetenzen vertiefen sowie Medien-/Methoden- und Urteilskompetenzen aufbauen.


Weiterführendes Material

Zitierempfehlung

Burkhardt, Hannes: „Gerda: A Flame in Winter“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 14.03.2024 [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]

Förderer

Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Projekts "Let's Remember! Erinnerungskultur mit Games vor Ort" in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.