All Walls Must Fall
Das rundenbasierte taktische Spiel All Walls Must Fall setzt sich in einem kontrafaktischen Zukunftsszenario mit der Zeit und den Konflikten des Kalten Kriegs auseinander und fokussiert dabei insbesondere Auseinandersetzungen zwischen der BRD und DDR.
Trailer
Erinnerungskulturelle Einordnung
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Im Berlin des Jahres 2089 zerreißt die Explosion eines Anschlags den Fernsehturm und mit ihm die Stadt. Die DDR existiert in dieser alternativhistorischen Zukunft noch immer. Ost-Berlin besitzt eine Technologie, mit der sich die Zeit manipulieren lässt. Die fragile Balance des Kalten Krieges hält der Osten so dauerhaft aufrecht. Der Terrorakt aber könnte nun einen Weltkrieg auslösen. Deshalb wird Sonderermittler Kai von der Organisation für Zeitmanipulation STASIS zurück vor den Anschlag entsendet. Zehn Stunden hat er, um im Rhythmus der wummernden Bässe elektronischer Musik im Untergrund des Ost-Berliner Nachtlebens nach den Drahtziehern zu suchen. Um den Anschlag zu verhindern, sammelt er in Echtzeit Beweise und führt Gespräche. Rundenbasiert kämpft er gegen Sicherheitsleute und dreht die Zeit vor und zurück. Zeiteinheiten begrenzen dabei als wichtigste Ressource seinen Handlungsspielraum. Dabei trifft er in der neonfarbenen Lichterwelt des Tech Noir von All Walls Must Fall auf ikonische sozialistische Erinnerungsobjekte.
Video-Kurzreview
Erinnerungskulturelle Bedeutung
Das Szenario von All Walls Must Fall entrückt den Kalten Krieg zwischen Ost und West zwar um 100 Jahre in die Zukunft. Der Kontrast einer neongrellen Zukunft leuchtet aber gerade deshalb die ikonischen historischen Referenzen aus. Sie reichen von der Mauer zum Trabant über Bruderkuss zum Politbüro und der Staatssicherheit.
Klassisch kombiniert das Erstlingswerk des Berliner Indie-Studios inbetweengames taktische Rundengefechte mit der Echtzeit-Bewegung außerhalb von Kämpfen und würzt leichte Anteile eines Rollenspiels hinein. Die Fähigkeiten der Hauptfigur oder die Ausrüstung auszubauen erweitert die Herangehensweisen in Missionen nur gering. Abwechslung bringen die zufällig generierten Schauplätze mit. Zu einer besonderen Spielerfahrung macht All Walls Must Fall die Manipulation der Zeit als Spielmechanik. Die in den neunziger Jahren beliebte Spielform (z. B. Syndicate, X-Com, Jagged Alliance) war lange Zeit totgesagt. Spätestens mit dem Reboot von X-Com: Enemy Unknown (1994) im Jahr 2012 blühte das Genre jedoch wieder auf. Parallelen zu einem Agentenszenario im Kalten Krieg finden sich bei Phantom Doctrine (2019). Bemerkenswert randständig kommen darin – ähnlich wie im Shooter Call of Duty: Black Ops – Cold War (2020) – die deutsche Teilung und die DDR vor, obwohl beide Machtblöcke an der schlecht heilenden Narbe des Zweiten Weltkriegs mitten in Berlin aufeinander prallten.
Diskussionspunkte
Die Zukunftsvision von All Walls Must Fall mag nicht unmittelbar historisch erscheinen. Die alternativhistorische Zukunft lässt aber einige relevante Motive der Erinnerungskultur erkennen. Durch sie markiert das Paralleluniversum den Schauplatz als Teil des sozialistischen Ostblocks. Am Bollwerk der Mauer etwa hält Ost-Berlin eisern sogar unter Einsatz von Zeitagenten fest. Hinter dem Anschlag vermutet die STASIS westliche Agitation, ohne innere Schwierigkeiten des Blocks überhaupt zu erwägen. Ihr Name erinnert zugleich an erstarrte Zustände wie an die Staatssicherheit der DDR. Ziel des Anschlags sei vor allem das Politbüro gewesen, um das Land ins Chaos und die Welt in einen Krieg zu stürzen. Eine wichtige Rolle erhält auch der Erinnerungsort der Glienicker Brücke. Dort tauschten Geheimdienste der Blöcke gegenseitige Gefangene und Agenten aus. Als Fahrzeug nutzt der Agent einen technisch offenbar fortentwickelten roten Trabant. Über der wild feiernden Partyszene prangt in einem Nachtclub die schrill leuchtende Szene eines Bruderkusses wie zwischen Breschnew und Honecker. Neben der Spielmechanik der Zeitmanipulation und dem unablässigen Rhythmus, nach dem sich aller Figuren zur Musik bewegen, besticht das Spiel also durch einen ungewöhnlichen historischen Bezug auf das vernachlässigte Thema der deutsch-deutschen Teilung.
Einsatzmöglichkeiten
Für Schüler*innen sind die Deutsche Einheit und die deutsche Teilung bereits klar historische Themen. Zugänge über digitale Spiele sind bislang selten (siehe 1378(km)). Filme wie „Goodbye Lenin“ (2003) und Bücher wie „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ (1999) verarbeiten das Thema längst. Die Serie „Deutschland 1983“ bewies 2015, dass es auch international verfängt. Entsprechend ließen sich auch Ausdrucksformen für digitale Spiele finden.
Diese Lücke anhand von All Walls Must Fall im Unterricht zu thematisieren, kann zu Konzeptideen junger Menschen anregen. Nintendo weist für die Switch eine Freigabe ab 16 Jahren aus. Doch auch Erwachsenen fehlen Vorbilder, mit digitalen Spielen das Thema näherzubringen. In Workshops und Game Jams könnten Museen, Gedenkstätten und Landeszentralen für politische Bildung mit Entwickler*innen Ideen erkunden.
Anhand des Indie-Teams ließe sich zudem die Lage der Games-Entwicklung in Deutschland behandeln. Im Hochrisiko-Geschäft wagen die größten Studios wenig. Erfolgreich im Crowdfunding, entschied sich inbetweengames gegen die Budgets großer Publisher und für ihre Vision. Leider genügten die Verkäufe nicht, um sich zu halten. Kollektive Strukturen wie im Saftladen Berlin und gezielte staatliche Förderung kulturell innovativer Ansätze stärken die Innovationskraft.
Weiterführendes Material
- Fritsch, Manuel. 2018. „All Walls Must Fall im Test – Die Mauer muss weg!“ gamestar.de 23.2.2018, zuletzt aufgerufen am 11.12.2021.
- Kreienbrink, Matthias. 2018. „Hoffen auf den großen Hit. Hinter den Kulissen bei Inbetweengames“. Spiegel Netzwelt 3.3.2018, zuletzt aufgerufen am 11.12.2021.
- Nolden, Nico. 2018. „Vorwärts immer, rückwärts immer!“ Keimling. Innovationen in digitalen Spielen und im Digital Game-Based Learning 25.11.2018, zuletzt aufgerufen am 11.12.2021.
- Nolden, Nico. 2020. „Wieder vereint!? Digitale Spiele und 30 Jahre Wiedervereinigung (Oktober 2020)“ [Playlist]. Kanal Nolden via Youtube 3.10.2020, zuletzt aufgerufen am 12.12.2021.
Zitierempfehlung
Nolden, Nico. „All Walls Must Fall“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 15.12.2021. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]