Politik durchgespielt
1994 startete die SPD ein Experiment: Mit “Abenteuer Europa” gab die sozialdemokratische Partei ein Spiel in Auftrag, das sich von damals beliebten Titeln wie “The Secret of Monkey Island” oder “Maniac Mansion” inspirierte. In “Abenteuer Europa” übernehmen wir die Rolle von Journalist Fred Becker, der sich auf eine Recherchereise begibt, die sich über zwölf Mitgliedstaaten der EU erstreckt. Das Spiel markierte nicht die Ambitionen der SPD, in einen Zukunftsmarkt zu investieren. Stattdessen sollte das interaktive Abenteuer dabei helfen, junge Menschen für den EU-Wahlkampf zu erreichen.
Der Rest ist Geschichte: Die sozialdemokratische Partei Deutschlands konnte im selben Jahr 40 der 99 Sitze im Europaparlament für sich beanspruchen. Dazu stellte sie die stärkste Fraktion. Ob das SPD-Spiel einen direkten Einfluss auf diesen Wahlerfolg hatte, ist eher unwahrscheinlich. Dennoch zeigt “Abenteuer Europa” gut, wie die Politik das interaktive Medium zu seinem Vorteil nutzt, um Geschichten und Botschaften zu verbreiten.
Games sind heute das größte Entertainment-Medium unserer Zeit. Heute spielen weltweit über drei Milliarden Menschen über Smartphone, PC und Konsole. Tendenz steigend. Das macht das Medium zu einem mächtigen Kommunikationswerkzeug: Das liegt vor allem daran, dass Spiele nicht nur als einfache Unterhaltung genutzt werden. Gerade im Online-Bereich fungieren sie als soziale Räume, in denen Menschen aktiv teilnehmen können – und vor allem wollen.
Regierungen haben längst damit begonnen, diese Räume mitzugestalten oder nach ihren Vorstellungen zu instrumentalisieren. Die Kommunistische Partei Chinas fordert bspw. inhaltliche Änderungen an Spielen, die mit den chinesischen Werten übereinstimmen. Erst dann dürfen sie im Land veröffentlicht werden. China ist mit seiner schieren Größe ein wichtiger und lukrativer Absatzmarkt für die Gaming-Industrie. Die Kommunistische Partei nutzt diesen Umstand, um in Spielen die chinesische Luftwaffe einfügen zu lassen oder pro-demokratische Hongkong-Proteste zu bestrafen.
Saudi-Arabien investierte hingegen allein im letzten Jahr mehrere Milliarden Dollar in die Gaming-Industrie. Dazu gehört auch das Aufkaufen von E-Sport-Unternehmen, die sich auf groß angelegte Events spezialisieren. Das unterstützt nicht nur die Pläne des Königreichs seine Wirtschaft zu diversifizieren, sondern auch PR-Bemühungen, die mit Sportswashing gleichzusetzen sind. Und im Westen entwickelten die USA lange Zeit eigene Spiele, um die Rekrutierungsrate ihrer Armee zu erhöhen. Laut einer Studie des MIT war diese Strategie erfolgreicher als alle bisherigen Werbemaßnahmen zusammen. Das erklärt vielleicht, warum die Bundeswehr jährlich auf Europas größter Gaming-Messe mit einem eigenen Stand vertreten ist.
Das ist wichtig zu verstehen. Videospiele prägen wie schon Filme, Bücher und Musik unsere Wahrnehmung des Zeitgeschehens. Durch ihre interaktive Natur ermöglichen sie zusätzlich, Perspektiven und komplexe Themen niedrigschwellig zu vermitteln. Das kann nicht nur dabei helfen, sich vor Falschinformationen und Propaganda zu schützen, es erzeugt auch Möglichkeiten, neue Reichweiten für Aufklärung zu gewinnen.
Das Online-Spiel Fortnite experimentierte bereits erfolgreich und veröffentlichte auf seiner Plattform Gedenkstätten, die vorrangig junge Spielerinnen und Spieler besuchten. Dazu zählt ein Holocaust-Museum, das über die Shoa aufklärt. Ein weiteres Museum rund um den Bürgerrechtler Dr. Martin Luther King ist in Zusammenarbeit mit der Time entstanden.
Reporter ohne Grenzen veröffentlichten indes im Baukastenspiel “Minecraft” die “Unzensierte Bibliothek”. Die digitale Bücherei stellt für jedes Land Informationen und Artikel zur Verfügung, die in Orten ohne Pressefreiheit zensiert sind. Die Idee ist, dass Spielerinnen und Spieler jegliche Zensur umgehen und sich in dieser Bibliothek über den politischen Zustand in ihrem Land informieren. Das sind nur wenige Beispiele von Potenzialen, die Games zu effektiven Sprachrohren machen. Mittlerweile werden sie genutzt, um politische Proteste zu veranstalten oder Klimamärsche zu organisieren.
Das alles sind gute Ansätze, die eindrucksvoll zeigen, welche Potentiale im Gaming-Bereich liegen, um eine politische Wertebildung zu fördern. Das heißt aber nicht, dass hier keine weitere Arbeit erforderlich ist. Es gilt die Gaming-Kultur als Technologie besser zu verstehen, um all ihren Herausforderungen und Möglichkeiten auf Augenhöhe zu begegnen. “Abenteuer Videospiele“, wenn man so möchte.