Hintergrund der Methode
Verstärkt beschäftigen sich Computerspiele mit ethisch relevanten Fragestellungen und verlangen von ihren Spieler*innen schwere Entscheidungen. Gerade seit der steigenden Popularität von Independent-Spielen wächst die Zahl von Titeln rasant, die sich zur Reflexion von einer großen Bandbreite von Themen von Arbeitslosigkeit über Alkoholismus bis hin zu Suizid eignen.
Diese Methode nimmt das Computerspiel Life is Strange (Dontnod Entertainment / Square Enix, 2015) zum Anlass, um mit jungen Menschen (ab 16 Jahren) über Identitätsfindung, Mobbing, Suizid sowie aktive und passive Sterbehilfe ins Gespräch zu kommen.
Das Spiel Life is Strange
Life is Strange ist ein fünfteiliges Adventure, in dem die Spieler*innen in die Rolle von Max Caulfield schlüpfen. Um Fotografie zu studieren, zieht Max in ihren alten Heimatort zurück, wo sie allerdings mit seltsamen Ereignissen konfrontiert wird. Sie begibt sich auf die Suche nach einer verschwundenen Mitschülerin, während sie gleichzeitig herausfindet, dass sie die Zeit zurückdrehen kann.
Mithilfe dieses Game-Design-Elements können auch getroffene Entscheidungen rückgängig gemacht werden. So erleben Spieler*innen unmittelbar die kurzfristigen Auswirkungen von Dialogoptionen und Handeln, müssen aber langfristige Konsequenzen selbst abwägen. Auf diese Weise können Spieler*innen besser ihr Verhalten abwägen und die direkten Reaktionen der anderen Charaktere bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. Das Spiel verfügt jedoch über verzweigte Reaktionsketten, die oft erst im späten Spielverlauf die Konsequenzen deutlich machen. (Spieler*innen haben auf verschiedenen Seiten Übersichten darüber verfasst, die sich auch zur Vorbereitung von Unterrichtseinheiten heranziehen lassen.)
Aus diesem Szenario ergibt sich im Verlauf der Story die Möglichkeit, in das Leben der Familie von Chloe – Max‘ bester Freundin – einzugreifen. Obwohl Max immer mit den besten Absichten Entscheidungen trifft, haben diese nicht vorhersehbare Konsequenzen für die Familie. Zu Beginn von Life is Strange lebt Chloe mit ihrer alleinerziehenden Mutter, da ihr Vater bei einem Autounfall gestorben ist. Max reist in die Vergangenheit, um Chloes Vater von der verhängnisvollen Autofahrt abzuhalten – aus einer Verkettung von mehreren Umständen verletzt sich allerdings Chloe so schwer, dass sie an einen Rollstuhl gebunden ist. Die zuvor lebensfrohe Chloe bittet Max daraufhin in einer Szene, sie umzubringen und ihrem Schmerz ein Ende zu bereiten.
Einsatz des Spiels im Unterricht
Hieraus ergibt sich die Chance, mit Schüler*innen in die Auseinandersetzung über den Tod einzusteigen sowie über die ethisch-moralischen Dimensionen von passiver und aktiver Sterbehilfe zu reflektieren. Da dies in den seltensten Fällen die Lebenswirklichkeit der Schüler*innen berühren dürfte, wird im ersten Schritt die Frage besprochen, mit welchem Recht Menschen über das Leben eines anderen Menschen entscheiden dürfen (oder nicht). Auf diese Weise wird auch das eigene Verhalten der Spieler*innen in der Rolle von Max thematisiert, die im Verlauf des Spiels freigiebig wichtige Lebensentscheidungen ihrer Mitmenschen beeinflusst oder in diese direkt eingreift.
Die ethisch-moralischen Dimensionen der passiven und aktiven Sterbehilfe lassen sich auf verschiedene Weisen mit Schüler*innen aufgreifen. Hierfür bieten sich folgende Instrumente zur Reflexion an:
a) Im Rollenspiel mit einem theaterpädagogischen Ansatz lassen sich Szenarien aus dem Spiel in den realen Raum transferieren. Im ersten Schritt werden hierzu Szenen aus dem realen Leben der Schüler*innen erarbeitet, in denen Entscheidungen für und gegen das Leben getroffen werden müssen. Auf diese Weise werden die komplexen Themen Tod und Sterbehilfe für die Schüler*innen greifbarer gemacht, was ihnen hilft, das Thema auf ihre eigenen Lebensgeschichten zu beziehen. In einem zweiten Schritt werden die im Rollenspiel erarbeiteten Szenen und die Erfahrungen, die hierbei von den Schüler*innen gemacht wurden, auf die im Spiel erlebten Szenen bezogen.
Hierbei soll eine Transferleistung stattfinden, bei der die Szenen des Spiels auf ihre ethisch-moralisch relevanten Elemente reflektiert werden. In einem dritten Schritt werden die aktive und passive Sterbehilfe aus ihrer aktuellen politischen Diskussion herausgegriffen und von den Schüler*innen mit Bezug auf die im Rollenspiel sowie die im Spiel erlebten Szenen reflektiert.
b) In Form einer (politischen) Diskussion werden Vertreter*innen für unterschiedliche Interessensverbände (Politik, Wirtschaft, Theologie, etc.) zusammengesetzt. Hierbei entscheiden die Schüler*innen, welche Personen an einer derartigen Diskussion ein Interesse haben könnten. Danach wird eine Person als Interessensvertreter*in für eine Podiumsdiskussion bestimmt. Diejenigen, die hierbei nicht direkt an der Podiumsdiskussion beteiligt sind, agieren als Beobachter*innen für eine der vorher bestimmten Personen. Interessant kann die Diskussion im Besonderen dann werden, wenn die Vertreter*innen der Verbände eine aus ihrer persönlichen Sicht gegenteilige Meinung vertreten müssen. Nach der Podiumsdiskussion werden die Ergebnisse in der gesamten Gruppe reflektiert. Die Zuschauer*innen schildern ihre Beobachtungen. Aus der anschließenden Auswertung werden die Erfahrungen gesammelt und auf die Szene aus dem Spiel reflektiert. Hierbei soll geklärt werden, wie die Szene und die Entscheidung, die der Spielende zu treffen hat, zu beurteilen sind und welche Konsequenzen sich für die Politik in Zukunft ergeben werden. Im Weiteren kann es ebenfalls interessant sein, ob und wenn ja, welche Verhaltensänderungen sich im Zuge der Diskussion bei den Beteiligten ergeben haben, also ob sie bei einem erneuten Spielen der Szene anders entscheiden würden.
c) Da davon auszugehen ist, dass die Schüler*innen bisher wenige Erfahrungen mit dem Thema der aktiven und passiven Sterbehilfe gemacht haben, recherchieren diese in Kleingruppen dazu im Internet. Die Schüler*innen sollen sich hierbei eine eigene Meinung bilden können, gleichzeitig wird ihre medienpädagogische Kompetenz dahingehend gefördert, ‚gute‘ Quellen zu recherchieren. Hiernach erstellen die Schüler*innen einen Kurzfilm bzw. einzelne Szenen, um die Thematik und ihre Meinung filmisch zu inszenieren. Die Filme können ruhig mit geringen Mitteln erstellt werden, so ist eine Handykamera für dieses Vorhaben vollkommen ausreichend. Bei der folgenden Präsentation der Gruppenergebnisse werden die Positionen, die aus den filmischen Materialien hervorgehen, aufgegriffen und mit der gesamten Gruppe reflektiert. Im Weiteren wird der Bezug zum Spiel und der darin gespielten Szene hergestellt. Interessant ist, zu erörtern, ob sich bei den Schüler*innen im Zuge der Arbeit eine Positionsveränderung ergeben hat.
Das Ziel der vorgeschlagenen Methoden soll die aktive Auseinandersetzung sowie die ethische Reflexion der passiven und aktiven Sterbehilfe sein. Hierbei können im Besonderen Alteritätserfahrungen unterstützend wirken, die sich im unter a) vorgestellten Rollenspiel hervorrufen lassen. Das Projekt und die beschriebenen Methoden können thematisch und ohne größeren Aufwand auf weitere Themen wie Mobbing etc. übertragen werden, die aus Life is Strange hervorgehen. Zudem lässt sich das Element der Zeitreise aus dem Spiel ebenfalls in die pädagogische Arbeit einbinden. So können verschiedene Entscheidungen mit ihren Konsequenzen durchgespielt werden. Hieraus kann sehr gut abgeleitet werden, welche Konsequenzen sich aus verschiedenen ethischen Entscheidungen ergeben. Diese Lernerfahrungen spiegeln wiederum die Komplexität der ethischen Reflexion wider.
Titelbild: Life is Strange, Square Enix 2015.