Digitale Spiele als Kulturgut?
Pro: Digitale Spiele als kreativer Spielplatz
Diesen Ansatz zu fördern, hat sich nicht zuletzt auch die kulturelle Praxis zur Aufgabe gemacht. In Workshops und Projekten in schulischen und außerschulischen Kontexten wird auf digitalen Spielplätzen gebastelt, gelötet, programmiert und gefilmt. Kreatives Computerspielen knüpft an das Expertenwissen der Jugendlichen an und vermittelt einen künstlerischen Umgang mit ihrem Alltagsmedium. Dabei wird das digitale Spiel zum Werkzeug oder Sandkasten für neue Kulturprodukte: als Kulisse für den eigenen Animationsfilm, als Setting für die digitale Landschaftsfotografie, als Vorlage für die Reproduktion lebensgroßer Computerspielfiguren. Die Jugendlichen lernen dabei, die typische Ästhetik und charakteristischen Bestandteile digitaler Spiele zu benennen und mit ihrer konkreten Wirklichkeit in Beziehung zu setzen. Vor allem erkennen sie durch die gestalterische Auseinandersetzung aber, dass sich Grenzen überschreiten und Regeln in Computerspielen brechen lassen. Der Regelbruch eröffnet neue Ausdrucksmöglichkeiten für die kulturelle Teilhabe.
Das digitale Spiel zeigt sich also als das womöglich spannendste Medium unserer Zeit. Weil es interaktiv ist, kommt es ohne die Spielenden nicht aus. Diese entscheiden über den Verlauf und das Ende des Spiels, sie bringen die Geschichte des Spiels voran und bestimmen so nicht nur, was sie erleben, sondern auch wie sie es erleben wollen. Spielen fördert selbstbestimmtes Handeln und ist damit Grundbedingung für die subversive Annäherung an das Kulturgut. Demzufolge trägt der kreative Umgang mit digitalen Spielen im Sinne einer kulturellen Bildung zur Persönlichkeitsbildung junger Menschen bei. Der Einsatz von Computerspielen in formalen und informellen Bildungskontexten darf deshalb nicht als reine Spielerei zum Selbstzweck aberkannt werden. Denn „Kinder und Jugendliche sind Experten ihrer eigenen Lebenswelt. Deshalb muss ihren ganz eigenen kulturellen bzw. ästhetischen Wahrnehmungen und Gestaltungsstrategien Raum gegeben werden. Kulturelle Bildung entsteht dabei im Wechselspiel von Rezeption und Produktion, individuellem und gemeinschaftlichem Lernen, ästhetischer Wahrnehmung, Erkenntnis und künstlerischem Handeln“ (KMK 2013). Ein medienkritisches Bewusstsein lässt sich folglich erst dann aneignen, wenn ein Wechsel der Perspektive vorgenommen wurde. Um Spielregeln zu brechen und die digitale Spielkultur für den Erwerb kognitiver und kreativer Kompetenzen nutzen zu können, ist das Spielen unerlässlich.
Kontra: Was ist Kultur?
Die Frage, ob Computerspiele Teil der Kultur sind, setzt voraus, dass geklärt ist, was Kultur ist. Versteht man unter Kultur nun alle Aktivitäten des Menschen, die nicht zu seiner Natur gehören, dann ist so ziemlich alles Kultur, was Menschen so – insbesondere in der Gemeinschaft und als Gemeinschaft – tun. Dieser rein beschreibende Kulturbegriff findet durchaus Verwendung, wenn zum Beispiel von der Kultur einer Zeit, eines Volkes oder einer Gruppe die Rede ist: »Das Essen mit Stäbchen ist Teil der chinesischen Kultur«, »Erpressung und Mord gehören zur Kultur der Mafia« – solche Sätze beschreiben, was ist, und der zugrunde gelegte Begriff von Kultur enthält keinerlei Wertung.
Damit liegt der normative Kulturbegriff allen Diskussionen darüber, was gefördert wird und was nicht, automatisch zugrunde, denn gefördert wird, was sein soll. Wenn beispielsweise hierzulande ein Kulturstaatsminister den Machern eines sehr realistischen und brutalen Killerspiels einen Kulturpreis verleiht (50.000 Euro), dann muss er sich der Frage stellen, was an dem Spiel gut, das heißt dem Menschen förderlich, ist. Sport, Musik, Theater, Museen, Wissenschaft, Kunst, Naturschutz, und Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Universitäten genießen ein hohes Ansehen in der Gemeinschaft und werden staatlich gefördert, weil diese kulturellen Aktivitäten bzw. Institutionen zu Wachstum, Glückserlebnissen und zum Erkennen sowie zum richtigen Tun – den Idealen der Aufklärung – beitragen.
Nach dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens schaden Bildschirmmedien im allgemeinen und ganz besonders Computerspiele der körperlichen, emotionalen, geistigen und sozialen Entwicklung junger Menschen nachweislich und verursachen Bewegungsmangel, Übergewicht, Schlafmangel, Sucht, Stress, hohen Blutdruck, Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste, Depression (einschließlich Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken) und Schulversagen. Zudem steigern sie die Aggressivität und vermindern die Empathiefähigkeit. Das Jugendwort des Jahres 2015 – Smombie, die Zusammensetzung aus Smartphone (dem vielfach vor allem zum Spielen verwendeten Schweizermesser des digitalen Zeitalters) und Zombie (seiner Seele beraubter willenloser Mensch) – trifft diesen Sachverhalt punktgenau und zeigt an, dass er von Jugendlichen mittlerweile selbst klar erkannt wird.
Wir Erwachsene haben die Verantwortung für die körperliche, geistige und seelische Entwicklung der nächsten Generation als unsere wichtigste Aufgabe zur Sicherung unseres Gemeinwohls, unserer Zukunft und unserer Kultur. Computerspiele richten großen Schaden an im Hinblick auf Glück, Gesundheit und Bildung. Wenn wir junge Menschen und deren Bildung dem unkontrollierten Profitstreben von Firmen überlassen, die zu den reichsten der Welt gehören, und dies auch noch als »Kultur« bezeichnen, handeln wir verantwortungslos!
Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht in: LAG Kinder- und Jugendkultur e.V. (Hrsg.): kju (1/2016). Schwerpunkt Computerspiele. Hamburg 2016, S. 18.
Er ist hier online verfügbar.