Kultur

Digitale Spiele als Kulturgut?

© Thatgamecompany / Sony - Journey (2012).

Pro: Digitale Spiele als kreativer Spielplatz

Digitale Spiele sind heute unumstrittener Bestandteil der Jugendkultur. Sie sind für die Heranwachsenden zum Raum für soziale Begegnungen, virtuelle Wettkämpfe und das Erproben neuer Kultur- und Inszenierungspraktiken geworden. Knapp die Hälfte aller Jugendlichen ab zwölf Jahren spielt mehrmals die Woche oder sogar täglich auf der Konsole, dem Computer, online oder auf dem Handy (JIM 2014). Sie schlüpfen in vertraute oder bisher unbekannte Rollen, bewegen sich ohne Scheu in fiktiven Umgebungen und erzählen dort ihre eigenen Geschichten. So werden die digitalen Spielewelten zum Experimentierfeld für das eigene Probehandeln. Trial and Error, Scheitern und Neuanfangen. Denn Computerspiele weisen ein besonderes Merkmal auf: sie eröffnen alternative Erlebnisräume, in denen das eigene Handeln nur scheinbar durch programmatische Grenzen bestimmt wird. Damit bilden sie die Grundlage für eine kreative Freiheit, die sich insbesondere beim zweckfreien Spielen entfalten kann. Das Als-ob des Virtuellen birgt ein ungeheures Potenzial für neue Perspektiven, kreative Umdeutung und künstlerische Ausdrucksformen.

Vera Marie Rodewald arbeitet als Medienpädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg. Sie gehört zur künstlerischen Leitung des Festivals PLAY und hat als Initiatorin der Initiative Creative Gaming zahlreiche Workshops und Projekte, auch im Rahmen der ComputerSpielSchule Hamburg, konzipiert und geleitet.

Diesen Ansatz zu fördern, hat sich nicht zuletzt auch die kulturelle Praxis zur Aufgabe gemacht. In Workshops und Projekten in schulischen und außerschulischen Kontexten wird auf digitalen Spielplätzen gebastelt, gelötet, programmiert und gefilmt. Kreatives Computerspielen knüpft an das Expertenwissen der Jugendlichen an und vermittelt einen künstlerischen Umgang mit ihrem Alltagsmedium. Dabei wird das digitale Spiel zum Werkzeug oder Sandkasten für neue Kulturprodukte: als Kulisse für den eigenen Animationsfilm, als Setting für die digitale Landschaftsfotografie, als Vorlage für die Reproduktion lebensgroßer Computerspielfiguren. Die Jugendlichen lernen dabei, die typische Ästhetik und charakteristischen Bestandteile digitaler Spiele zu benennen und mit ihrer konkreten Wirklichkeit in Beziehung zu setzen. Vor allem erkennen sie durch die gestalterische Auseinandersetzung aber, dass sich Grenzen überschreiten und Regeln in Computerspielen brechen lassen. Der Regelbruch eröffnet neue Ausdrucksmöglichkeiten für die kulturelle Teilhabe.

Das digitale Spiel zeigt sich also als das womöglich spannendste Medium unserer Zeit. Weil es interaktiv ist, kommt es ohne die Spielenden nicht aus. Diese entscheiden über den Verlauf und das Ende des Spiels, sie bringen die Geschichte des Spiels voran und bestimmen so nicht nur, was sie erleben, sondern auch wie sie es erleben wollen. Spielen fördert selbstbestimmtes Handeln und ist damit Grundbedingung für die subversive Annäherung an das Kulturgut. Demzufolge trägt der kreative Umgang mit digitalen Spielen im Sinne einer kulturellen Bildung zur Persönlichkeitsbildung junger Menschen bei. Der Einsatz von Computerspielen in formalen und informellen Bildungskontexten darf deshalb nicht als reine Spielerei zum Selbstzweck aberkannt werden. Denn „Kinder und Jugendliche sind Experten ihrer eigenen Lebenswelt. Deshalb muss ihren ganz eigenen kulturellen bzw. ästhetischen Wahrnehmungen und Gestaltungsstrategien Raum gegeben werden. Kulturelle Bildung entsteht dabei im Wechselspiel von Rezeption und Produktion, individuellem und gemeinschaftlichem Lernen, ästhetischer Wahrnehmung, Erkenntnis und künstlerischem Handeln“ (KMK 2013). Ein medienkritisches Bewusstsein lässt sich folglich erst dann aneignen, wenn ein Wechsel der Perspektive vorgenommen wurde. Um Spielregeln zu brechen und die digitale Spielkultur für den Erwerb kognitiver und kreativer Kompetenzen nutzen zu können, ist das Spielen unerlässlich.

Kontra: Was ist Kultur?

Die Frage, ob Computerspiele Teil der Kultur sind, setzt voraus, dass geklärt ist, was Kultur ist. Versteht man unter Kultur nun alle Aktivitäten des Menschen, die nicht zu seiner Natur gehören, dann ist so ziemlich alles Kultur, was Menschen so – insbesondere in der Gemeinschaft und als Gemeinschaft – tun. Dieser rein beschreibende Kulturbegriff findet durchaus Verwendung, wenn zum Beispiel von der Kultur einer Zeit, eines Volkes oder einer Gruppe die Rede ist: »Das Essen mit Stäbchen ist Teil der chinesischen Kultur«, »Erpressung und Mord gehören zur Kultur der Mafia« – solche Sätze beschreiben, was ist, und der zugrunde gelegte Begriff von Kultur enthält keinerlei Wertung.

Neben diesem deskriptiven gibt es auch einen normativen Kulturbegriff. Diesem verdankt das Wort »Kultur« seine Existenz, hat doch das lateinische Wort cultura die Bedeutung Pflege oder Ausbildung und bezog sich ursprünglich auf den Ackerbau. Dieser Bedeutung zufolge zielt Kultur auf das gute Handeln ab (richtig anbauen, den Acker pflegen etc.). Schon die Römer weiteten den Bereich des durch Kultur zu Pflegenden auf den Menschen aus und sprachen von der Kultur der Seele (cultura animi) und von Kultur als Bearbeitung der eigenen Persönlichkeit. In diese Tradition der Verwendung des Ausdrucks Kultur gehören auch »Kulturkritik« und »Kulturförderung« als Errungenschaften der Neuzeit, muss doch eine kritische Bewertung immer vorgenommen werden, wenn es um das Ausgeben öffentlicher Mittel geht.

Manfred Spitzer ist Psychiater, Psychologe und Hochschullehrer. Seit 1998 leitet er die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das 2004 eröffnete Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL). Seine Bücher »Digitale Demenz« (2012) und »Cyberkrank!« (2015) behandeln die Risiken und Nebenwirkungen digitaler Informationstechnik aus wissenschaftlicher Sicht.

Damit liegt der normative Kulturbegriff allen Diskussionen darüber, was gefördert wird und was nicht, automatisch zugrunde, denn gefördert wird, was sein soll. Wenn beispielsweise hierzulande ein Kulturstaatsminister den Machern eines sehr realistischen und brutalen Killerspiels einen Kulturpreis verleiht (50.000 Euro), dann muss er sich der Frage stellen, was an dem Spiel gut, das heißt dem Menschen förderlich, ist. Sport, Musik, Theater, Museen, Wissenschaft, Kunst, Naturschutz, und Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Universitäten genießen ein hohes Ansehen in der Gemeinschaft und werden staatlich gefördert, weil diese kulturellen Aktivitäten bzw. Institutionen zu Wachstum, Glückserlebnissen und zum Erkennen sowie zum richtigen Tun – den Idealen der Aufklärung – beitragen.

Nach dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens schaden Bildschirmmedien im allgemeinen und ganz besonders Computerspiele der körperlichen, emotionalen, geistigen und sozialen Entwicklung junger Menschen nachweislich und verursachen Bewegungsmangel, Übergewicht, Schlafmangel, Sucht, Stress, hohen Blutdruck, Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste, Depression (einschließlich Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken) und Schulversagen. Zudem steigern sie die Aggressivität und vermindern die Empathiefähigkeit. Das Jugendwort des Jahres 2015 – Smombie, die Zusammensetzung aus Smartphone (dem vielfach vor allem zum Spielen verwendeten Schweizermesser des digitalen Zeitalters) und Zombie (seiner Seele beraubter willenloser Mensch) – trifft diesen Sachverhalt punktgenau und zeigt an, dass er von Jugendlichen mittlerweile selbst klar erkannt wird.

Wir Erwachsene haben die Verantwortung für die körperliche, geistige und seelische Entwicklung der nächsten Generation als unsere wichtigste Aufgabe zur Sicherung unseres Gemeinwohls, unserer Zukunft und unserer Kultur. Computerspiele richten großen Schaden an im Hinblick auf Glück, Gesundheit und Bildung. Wenn wir junge Menschen und deren Bildung dem unkontrollierten Profitstreben von Firmen überlassen, die zu den reichsten der Welt gehören, und dies auch noch als »Kultur« bezeichnen, handeln wir verantwortungslos!

Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht in: LAG Kinder- und Jugendkultur e.V. (Hrsg.): kju (1/2016). Schwerpunkt Computerspiele. Hamburg 2016, S. 18.

Er ist hier online verfügbar.