Überlegungen zum Holocaust im digitalen Spiel

Dr. Eugen Pfister
Veröffentlicht am 7. August 2024

Das Format digitale Spiele ist – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – nicht unbedingt bekannt dafür, verantwortungsvoll mit kontroversen Fragen umzugehen. Unangenehme Themen werden vor allem von großen Spielevertrieben, den sogenannten Publishern, meist umgangen. Auf einen ersten Blick ist der Impuls nachvollziehbar: Sklaverei, Genozide, Zwangsprostitution und Kinderarbeit sind aus gutem Grund kulturelle Tabus und sollten nicht zum „Spielspaß“ werden. Auf den zweiten Blick stellt sich uns aber schnell ein ganz zentrales Problem: Was geschieht, wenn wir diese dunklen Passagen unserer Geschichte in digitalen Spielen konsequent ausklammern? 

Das Problem der „gesäuberten“ Geschichte

So können wir heute die europäische Kolonialgeschichte in mehreren hervorragenden Spielen nacherleben. Dass dafür die Ausbeutung angeblich „unterentwickelter“ Völker und deren Versklavung Voraussetzung waren, wird an der Stelle nicht erwähnt. Die Eroberung der „Neuen Welt“ wird zur nachspielbaren Erfolgsgeschichte europäischer Überlegenheit. 

In den meisten Aufbausimulationen müssen wir uns keine Gedanken um die Arbeitsbedingungen unserer Arbeiter*innen machen. Entweder verstecken sie sich hinter unansehnlichen Zahlentabellen oder aber sie erscheinen uns in Form fröhlicher kleiner Figuren, die unsere Landkarten bewandern – in der Branche gerne „Wuselfaktor“ genannt. Das Schlimmste, was ihnen dann passieren kann, ist, dass sie den Weg zur Arbeit nicht finden. 

Allgemein wird in den allermeisten Strategiespielen aber auch in FirstPerson-Shootern die Zivilbevölkerung meist vollständig ausgeklammert. Interessanterweise übernehmen wir hier ein verbreitetes Narrativ des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem britischen Empire und dem russischen Zarenreich euphemistisch als „The Great Game“ bezeichnet wurden. Krieg wird zum Kräftespiel zweier mehr oder weniger ebenbürtiger Gegner. Der einzelne Soldat verschwindet hinter Zahlenkolonnen und Symbolen auf strategischen Karten. Wenn wir aktuelle Strategiespiele anschauen, hat sich da erstaunlich wenig geändert. Krieg wird zur sportlichen Herausforderung. Karten werden wie vor hundert Jahren umgefärbt, Nachschubwege gesichert, die Produktion angekurbelt. Im Hintergrund dudeln alte Märsche aus den Boxen (oder Kopfhörern) während wir Wien, Prag, Warschau erobern. Alles schön geordnet und sauber. Die Leiden der Zivilbevölkerung bekommen wir nicht zu sehen; es ist ja alles nur ein Spiel. Das Gleiche gilt für die meisten First-Person-Shooter: Kollateralschäden werden meist erst gar nicht zugelassen. Die Bewohner*innen der Städte, durch die wir uns kämpfen, bekommen wir während Missionen meist gar nicht erst zu sehen. 

Das Argument scheint nicht von der Hand zu weisen: Es ist ja nur ein Spiel, ein So-tun-als-ob. Wenn wir „End turn“ drücken oder den virtuellen Abzug betätigen, stirbt niemand wirklich. Das Gleiche gilt ja auch für Schach oder Risiko. Das Argument mag auf den ersten Blick elegant wirken, aber es überzeugt nicht: Erstens handelt es sich bei den letztgenannten Spielen um weitaus stärkere Abstraktionen einer spielerischen Realität, die im Gegensatz zu vielen digitalen Spielen keinen Anspruch auf Authentizität stellen. Zweitens wird durch diese konkreten Brettspiele nicht die Würde von Menschen bestimmter Herkunft oder religiöser Überzeugung verletzt. Stellen wir uns dazu vor, dass wir gemeinsam mit einem Freund oder einer Freundin diese Spiele spielen, der oder die Verwandte im Holocaust verloren hat. Drittens lässt sich die strenge Trennung zwischen Realwelt und Spielwelt aus wissenschaftlicher Perspektive nicht wirklich halten. Zwar sind wir uns immer dessen bewusst, dass unser Handeln im Spiel keine Konsequenzen haben sollte, wir bleiben aber die – selben Menschen. Die Erfahrungen, die wir im Spiel gemacht haben, verlieren wir nicht mit Beenden des Spiels. 

Ein Problem haben wir potenziell immer dann, wenn digitale Spiele einen hohen Grad an Authentizität für sich beanspruchen, diese sich aber auf die korrekte Darstellung von Waffen und Uniformen beschränkt. Dann müssen sich Spieleentwickler*innen die Frage gefallen lassen, warum sie manche Aspekte so historisch akkurat wie möglich darstellen wollen, andere wiederum gar nicht. Warum ist es notwendig, Waffen möglichst realistisch zu modellieren, nicht aber den Alltag der Menschen? Vor allem, wenn dann auf die Zeitgeschichte wie insbesondere den Zweite Weltkrieg zurückgegriffen wird, stellt sich zudem die noch schwerwiegendere Frage, ob eine „gesäuberte“ Darstellung nicht auch Gefahr läuft, unethisch zu sein. 

Bleiben wir beim Zweiten Weltkrieg: Was geschieht, wenn wir die menschenverachtende Ideologie des NS-Regimes samt seiner Insignien einfach weglassen, wenn wir den industriellen Massenmord an über sechs Millionen Menschen einfach ausblenden? Das Deutsche Reich wird dann eine beliebige spielbare Fraktion. Wir wissen zwar implizit, dass wir in Mehrspieler-Arenen oder Strategiespielen die „Bösen“ spielen – das macht sicherlich auch ein wenig den Reiz des Ganzen aus – ohne aber, dass uns klar wird, warum das NS-Regime wirklich böse ist. Es wird zu einer sinnentleerten Karikatur des Bösen, hier dem Imperium aus Star Wars (George Lucas, 1977) oder Sauron und seine Schergen aus den Herr der Ringe-Romanen (J.R.R. Tolkien, 1954/55) vergleichbar. 

Wege Verbrechen anzusprechen

Der Unterschied ist aber, dass der Zweite Weltkrieg in seinen Auswirkungen zum Bestandteil unserer Identität geworden ist. „Nie wieder“ ist eine der zentralen politischen Maximen unserer Nachkriegsgesellschaften. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns erinnern. Deshalb ist es wichtig, dass es Bücher, Filme und auch digitale Spiele zum Zweiten Weltkrieg gibt, weil wir eben nicht vergessen dürfen, was geschehen ist. Insofern sollten wir digitale Spiele zum Zweiten Weltkrieg weniger als Gefahr und mehr als Chance sehen. Im Spielfilm galt auch lange ein „Bilderverbot“; der Holocaust durfte nicht dargestellt werden, weil es unvorstellbar war, das Grauen in Form eines Unterhaltungsfilms zu sehen. Dann zeigten Filme wie Schindlers Liste (Steven Spielberg, 1993), Das Leben ist Schön (Roberto Benigni, 1997) und Der Pianist (Roman Polanski, 2002), dass es Wege gibt, die Verbrechen des NS-Regimes in Spielfilmen verantwortungsvoll erfahrbar zu machen. Deshalb spricht vieles dafür, dass das auch in digitalen Spielen möglich sein wird. Naturgemäß darf der Holocaust nie zur Spielmechanik verkommen, er darf aber auch nicht länger konsequent verschwiegen werden. 

Es muss – wie im Film – Wege geben, die Verbrechen des NS-Regimes anzusprechen, die Spieler*innen auf diese hinzuweisen, ohne das Spiel an sich zu zerstören. Die Entwickler*innen der Medal of Honor-Reihe (AE, 1999-2020) hatten anfangs angeblich extreme Zweifel, ob sich der Zweite Weltkrieg als Setting für Shooter eigne, weil es zu düster wäre und die Spieler*innen deswegen abschrecken würde. Bekanntlich war das Gegenteil der Fall.

Medal of Honor: Above and Beyond

Thema: Holocaust, Nationalsozialistische Herrschaft, Widerstand, Zweiter Weltkrieg
Erscheinungsjahr: 2020

Was außerdem Mut macht, ist, dass sich gerade die Anzeichen häufen, dass auch Spieleentwickler*innen sich vermehrt dieser Frage annehmen. Während vor einem Jahrzehnt ambitionierte Versuche wie das kleine Indie-Spiel Imagination Is The Only Escape (Luc Bernard, unveröffentlicht) noch aufgrund der befürchteten Kontroversen scheiterten, zeigten zuletzt zum Beispiel die Entwickler*innen von Call of Duty: WWII (Sledgehammer Games, 2018) erste Bemühungen, die „dunklen Seiten der Geschichte“ zumindest andeutungsweise anzusprechen. Es blieb vorerst bei einem Foto eines KZ-Häftlings mit Judenstern im Abspann und der Darstellung eines Lagers für Kriegsgefangene. Es ist aber ermutigend zu sehen, dass die Impulse, das Unvorstellbare nicht länger auszulassen, nicht von außen, also von der Wissenschaft und Politik oktroyiert werden müssen.

Call of Duty: WWII

Thema: Antisemitismus, Holocaust, Nationalsozialistische Herrschaft, Zweiter Weltkrieg
Erscheinungsjahr: 2017

Sie finden von selbst einen Weg in die Spiele. Das zeigten Wolfenstein: The New Order (Machine Games, 2014) und – in der unzensierten Originalversion – Wolfenstein II: The New Colossus (Machine Games, 2017) oder aber das japanische Strategiespiel Valykria Chronicles (Sega, 2008). Hier wurde in einem fiktionalen und fantastisch überzeichneten Setting ganz direkt der rassistisch motivierte Massenmord an Millionen von Menschen angesprochen. Es gibt also Wege, die Verbrechen des NS-Regimes in Spielen darzustellen. Abschließend hilft uns vielleicht auch ein Blick auf die Computerspielgeschichte, um zu sehen, dass es ganz normal ist, wenn sich ein Medium weiterentwickelt und neue Wege der Darstellung findet. Noch in den 1980er Jahren prangten regelmäßig die Konterfeis von deutschen Generälen wie Rommel und Guderian auf den Spielecovers. In den Handbüchern wurde der Krieg als heldenhafter Wettstreit edelmütiger Offiziere auf beiden Seiten dargestellt. Allein das schon ist heute nicht mehr vorstellbar. Hier zeigt sich bereits der langsame, aber beständige Wandel in der Darstellung des Krieges. Nichts spricht also dagegen, dass digitale Spiele in Zukunft neue Wege finden, um nicht länger die dunklen Seiten unserer Geschichte auszusparen. 

Dr. Eugen Pfister ist Historiker und Mitbegründer des Arbeitskreises Geisteswissenschaften und Digitale Spiele.

Dieser Beitrag wurde ursprünglich und in unveränderter Fassung veröffentlicht in: Stiftung Digitale Spielekultur (Hg.): Erinnern mit Games. Digitale Spiele als Chance für die Erinnerungskultur. Berlin, 2020, S. 44– 47.