Digitale Spiele aus Perspektive der Geschichtswissenschaft

Dr. Angela Schwarz
Veröffentlicht am 7. August 2024

Digitale Spiele sind Teil der Alltagskultur von Millionen von Menschen, längst nicht mehr überwiegend von Kindern und Jugendlichen. So stieg das Durchschnittsalter der Spielenden in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich an und liegt mit 37,5 Jahren weit über der Schwelle zum Erwachsenensein. 2020 galten erstmals mehr Menschen zwischen 50 und 59 Jahren als Spieler*innen als Menschen zwischen 10 und 19 Jahren.


Da unter den genutzten Spielen auch zahlreiche Titel sind, die sich historischen Stoffen widmen, fordern diese Titel die Vertreter*innen historischer Bildungsarbeit und von Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft heraus – was auch auf andere Medien zutrifft. Wenn dort gegenüber dem Medium immer noch in vielen Fällen große Zurückhaltung herrscht und die Meinung weit verbreitet ist, die historischen Inhalte der Spiele seien derart reduziert, dass sie nichts mit Geschichte im wissenschaftlichen Sinn zu tun haben, dann sind dies Entwicklungen, wie sie bereits für andere populäre Medien wie Kino, Comic oder Fernsehen in den früheren Stadien ihrer Etablierung zu beobachten waren. 

Diese Skepsis ist keineswegs unberechtigt, denn die Geschichtswissenschaft befasst sich primär mit der Erforschung der Vergangenheit und richtet Forschungsfragen an Quellen aus der Zeit, die sie in den Blick nimmt. Digitale Spiele der Gegenwart stammen aber zum allergrößten Teil weder aus der Zeit, die sie historisch thematisieren, noch beinhalten sie Fragestellungen, die wissenschaftlichen Forschungsfragen nahekommen. Folgerichtig lassen sich aus Spielen mit historischen Themen keine Erkenntnisse über die Vergangenheit gewinnen, und genau deswegen sehen nicht wenige Geschichtswissenschaftler*innen keinen Sinn darin, sich überhaupt mit ihnen zu befassen. Das ist aber aus zwei Gründen fragwürdig. 

Spiele als Quellen

Der erste Grund liegt im Alter des digitalen Spielens. Inzwischen liegen mehr als vier Jahrzehnte digitaler Spielekultur hinter uns. Die ältesten Spiele sind inzwischen alt genug, um als Quellen für zeithistorische Alltagskulturen zu dienen, etwa zur Rezeption der Gegenwart des Kalten Krieges in den Spielen der 1980er Jahre.  Denn wie schon zuvor andere (Massen -)Medien lassen sich auch Spiele als Spiegel ihrer Entstehungszeit verstehen. In diesem Fall ist es nicht einmal erforderlich, dass die Spiele historische Themen behandeln. Aus praktisch jedem Spielinhalt lassen sich für die Zeit, in der das Spiel auf den Markt kam, Rückschlüsse über die Vorstellungen zumindest eines Teils der Menschen der damaligen Zeit ziehen. Dies funktioniert selbst unabhängig davon, ob in den Spielen politische Konzepte, gesellschaftliche Strukturen, Zukunftsvorstellungen oder Geschichtsbilder vorkommen. 

Geschichtsbilder in Spielen

Der zweite Grund sind eben diese „Geschichtsbilder“, also weit verbreitete und nicht zwingend wissenschaftlich begründete Vorstellungen von Geschichte, von vergangenem Leben und Handeln, von historischen Personen und Ereignissen. Diese zu untersuchen, in historischer wie in gegenwärtiger Perspektive, ist die Aufgabe einer der jüngeren Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft, die meist mit dem Begriff der „public history“ gefasst wird. In diesem Forschungsfeld der Geschichts- und Erinnerungskultur geht es eben nicht mehr darum, Fragen an die Geschichte zu richten, sondern die Forschungsfragen darauf auszurichten, wie Geschichte im öffentlichen Raum verhandelt wird, was Menschen für historisch halten, wie vergangenes Leben in der breiten Wahrnehmung gedeutet und verstanden wird. Weitreichende Reduktionen des jeweiligen Sachverhalts, die Historiker*innen sonst ablehnen, werden hier zum Kern der Untersuchung. Warum wird was reduziert? Und welche Konsequenzen hat dies auf das Verständnis von Geschichte? Dabei geht es nicht um die Reduktion an sich. Reduktion erfolgt immer, auch in der Wissenschaft. Es geht um die Art, um die Intensität der Reduktion und es geht letztlich um den Unterschied zwischen dem, was wissenschaftlich als Geschichte verhandelt wird, und dem, was als populäre Geschichte angesehen werden kann. 

Populäre Geschichte ist das, worüber im Kontext von Geschichte in digitalen Spielen zu sprechen ist. Popularität bedeutet Beachtung und Reichweite: Eine wissenschaftliche Publikation ist meist auf wenige hundert Exemplare beschränkt, ein Sachbuch kann schon mehrere Tausend erreichen, ein Blockbuster-Film oder ein Triple-A-Videospiel erreichen hingegen nicht selten Millionen von Menschen. 

Gleichzeitig ist (Geschichts-)Wissenschaft hochgradig komplex. Sie fragt nicht danach, wie es eigentlich gewesen ist, so wie dies der Historismus des 19. Jahrhundert noch forderte. Sie forscht nach dem ›Warum‹, nach Ursachen und Folgen, nach Hintergründen und Zusammenhängen, nach Entwicklungen, die schließlich zu dem führten, was unsere Gegenwart ausmacht. Für die meisten Menschen hingegen stellt sich Geschichte vor allem als eine Aneinanderreihung von Fakten dar, ergänzt um visuelle Vorstellungen überlieferter Bilder. Konsequenterweise bauen aktuelle Lernspiele wie die Discovery Tour by Ubisoft: Ancient Greece (Ubisoft Montreal, 2019) genau auf diese Muster: Faktenwissen mit groben Zusammenhängen und eine „passende“ visuelle Untermalung. 

Aus wissenschaftlicher Sicht ist dies zu einfach, zu stark reduziert, aber es ist ein üblicher Prozess, der schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgt und schon damals ausdrücklich durch die Geschichtswissenschaft gefördert wurde. Schon vor fast zwei Jahrhunderten popularisierten Wissenschaftler*innen ihre Forschungen für breitere Leserkreise, ganz gezielt als reine Faktensammlungen und ohne den komplizierten wissenschaftlichen Forschungsdiskurs. An dieser Grundhaltung hat sich praktisch kaum etwas geändert, so dass es kaum verwundert, dass historische Forschungen in einer breiteren Öffentlichkeit – wenn überhaupt – nur in einer stark reduzierten Form wahrgenommen werden, und zwar als Popularisierungen. 

Mehr Geschichte wagen

Digitale Spiele sind eine dieser Formen, die historisches Wissen aufgreifen und popularisieren. Dabei greifen sie im Regelfall sogar eher auf Wissen zurück, dass bereits vorher popularisiert wurde. Anders gesagt: Gamedesigner*innen lesen zumeist selbst keine wissenschaftlichen Forschungen, sondern eher Sachbücher, die bereits popularisiertes Material beinhalten. Wenn es dann doch einmal dazu kommt, dass zeitgenössische Quellen genutzt werden, um ein Spiel zu gestalten, dann geht es oft darum, bestimmte Details visuell korrekt wiederzugeben, so etwa geographische Gegebenheiten, technische Geräte oder die Darstellung von Kämpfen. Aus Sicht der Geschichtswissenschaft sind solche Aspekte eher zweitrangig und tragen wenig zu den relevanten Forschungsfragen bei. Folglich wird die Einbindung von Historiker*innen, sofern sie tatsächlich an einer Spieleproduktion mitwirken, in den allermeisten Fällen darauf beschränkt, die Korrektheit der Fakten sicherzustellen und zu verbürgen, nicht aber aktuelle Forschungsergebnisse angemessen zu integrieren. Das offenbart die immense Diskrepanz zwischen Geschichte als Wissenschaft auf der einen und Populärkultur auf der anderen Seite. Doch muss diese Kluft überhaupt überwunden werden? 

Nicht zwangsläufig, denn Spiele sollen in erster Linie unterhalten und nicht belehren. Wenn sie letzteres nebenher tun, ohne den Spielspaß zu reduzieren, dann ist dies schon ein großes Plus. Spiele müssen keine wissenschaftlichen Abhandlungen sein, aber sie dürfen durchaus „mehr Geschichte wagen“. Denn bislang konzentrieren sich die historischen Stoffe in Spielen nur allzu oft auf visuelle und erzählerische Komponenten. Beides sind etablierte Muster, die auch in anderen Medien wesentlich sind. Beim digitalen Spiel kommt mit dem eigentlichen Gameplay aber noch eine weitere, eine zentrale Komponente hinzu, die sich überwiegend an spielerischen Vorlieben und etablierten Genres ausrichtet und folglich kaum einmal als Trägerin historischer Sachverhalte zum Einsatz kommt. Dabei ist genau dieses Element der Punkt, der das interaktive Medium des Spiels von anderen Medien abhebt. Hier also Spielelemente auf Basis historischer Kontexte und Sachverhalte zu entwickeln, anstelle traditionelle Spielsysteme zu nutzen, wäre ein wünschenswerter Schritt, der in verschiedenen Genres dazu führen würde, historische Zusammenhänge angemessener darzustellen, so etwa die Nachbildung von politischen oder wirtschaftlichen Systemen im Bereich der Wirtschaftssimulationen oder Aufbaustrategiespiele, oder gesellschaftliche Implikationen in Open-World-Spielen mit zahlreichen unterschiedlichen Figuren. Ein solches Experiment müsste immer noch ein Spiel sein und den Spielenden Spaß bereiten, aber es darf eben auf mehr als nur lose historische Fakten und visuelle Bildrekonstruktionen der Vergangenheit zurückgreifen. So könnte das Bild einer offeneren, multiperspektivischen und vielschichtigen Geschichte entstehen. 

Dr. Angela Schwarz ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen.

Literatur

 

Dieser Beitrag wurde ursprünglich und in unveränderter Fassung veröffentlicht in: Stiftung Digitale Spielekultur (Hg.): Erinnern mit Games. Digitale Spiele als Chance für die Erinnerungskultur. Berlin, 2020, S. 32-35.