Digitale Spiele als neuer Zugang zur Zeit des Nationalsozialismus
Gedanken zur Darstellung der NS-Zeit am Beispiel von The Inner World 2: Der letzte Windmönch.
„Heil Conroy!“, sagt eine Figur aus dem Computerspiel The Inner World 2: Der letzte Windmönch (Studio Fizbin, 2017), die den Spielenden bei der Erkundung der Welt auf einer Straße begegnet. Und mir, als Spielentwickler, läuft dabei immer noch ein kalter Schauer über den Rücken.
Das Spiel gehört dem Genre der Adventures an. Man erkundet eine Spielwelt, kann mit ihren Bewohner*innen reden, Objekte nehmen und schreitet durch das Lösen von Rätseln in der Geschichte voran. Das Medium Spiel bietet hier die einmalige Chance, die Rolle einer Figur zu übernehmen und nicht einfach nur zuzuschauen.
Und doch muss man manchmal genau das: Machtlos zuschauen. Denn unsere Hauptfigur Robert gehört zu den sogenannten Flötennasen, die in der Fantasiewelt Asposien verachtet und verfolgt werden. Dabei bringen die Flötennasen auf magische Weise die Atemluft in die Welt und halten sie so am Leben. Doch die anderen Bewohner*innen sehen nur dunkle „Hexer“, die den Monarchen Conroy getötet haben sollen. Conroy wird zum Märtyrer verklärt und es bildet sich eine Volksbewegung, mit dem einfachen Kramhändler Emil an ihrer Spitze, die die Flötennasen umbringen will. Die Asposer lassen sich von Angst und Hass leiten. Dieses Motiv kennen wir vielfach aus der Weltgeschichte und insbesondere als Deutsche natürlich aus der Zeit des Nationalsozialismus.
Die Idee
Die Idee zu The Inner World 2 entstand unter dem akuten Eindruck der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015. Der Vorgänger, The Inner World (Studio Fizbin, 2013), endete damit, dass der Protagonist Robert seine Familie wiedergewann und der autoritäre Herrscher Conroy gestürzt wurde. Ein Happy End also. Wie lässt sich die Geschichte von hier aus weitererzählen?
Auch in der Flüchtlingskrise wurden Schutzsuchende zu unaufhaltsamen und geradezu aggressiven „Flüchtlingswellen“ umgedeutet. Die Partei Alternative für Deutschland (AfD) nutzte die Situation für menschenverachtende Aussagen, populistische Erklärmuster mit angstmachenden Feindbildern und eine Verächtlichmachung der parlamentarischen Demokratie. Und da waren sie plötzlich wieder: Die Vorboten des Faschismus. Und sie mussten sich nicht einmal mehr groß verkleiden.
Die Welt von The Inner World ist eine humorvolle, märchenhafte Welt. Doch sie behandelt ebenso gesellschaftliche und politische Themen: Machtmissbrauch, das populistische Spiel mit Angst sowie Religion und Glaube. Den Faschismus ins Zentrum des zweiten Teils zu stellen, lag daher durchaus Nahe. Aber tatsächlich war der erste Arbeitstitel des Nachfolgers zunächst einfach noch „Hexenjagd“. Die Flötennasen sollten mit ihren magischen Fähigkeiten ins Zentrum der Geschichte rücken. Eine lebensspendende Kraft wird zur schwarzen Magie umgedeutet und der Hass und die Angst einzelner Menschen vor einer kleinen „Bevölkerungsgruppe“ tritt an die Stelle der Verschwörung eines einzelnen Monarchen. Im Kern war das Thema gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit damit jedoch schon etabliert.
In einer ersten Visualisierung des Spiels ziehen einige aufgebrachte Asposer mit Mistgabeln und Fackeln bewaffnet durch ein Dorf, um die Flötennasen zu vertreiben. Sie tragen dabei die roten Farben ihres verstorbenen Märtyrers und das Symbol von Conroy, eine weiße, brezelförmige Brosche. Im Halbschatten stehen Robert und weitere Flötennasen, mit einem Baby auf dem Arm, in zerrissener Kleidung und voller Angst im Blick. Diese Darstellung entstand wie von allein: Plötzlich waren wir visuell nicht mehr bei der Hexenverfolgung, sondern in der Zeit des Nationalsozialismus angelangt. Wir zögerten zunächst. Der Vorgänger The Inner World gewann unter anderem in der Kategorie Bestes Familienspiel beim Deutschen Entwicklerpreis 2013 und ist ab 6 Jahren freigegeben. Kann so ein Thema etwas für Kinder sein? Würden wir es verharmlosen? Doch wir ließen den Gedanken zu, entschieden uns dafür, das Risiko einzugehen und diesen Weg konsequent weiter zu verfolgen.
Eine Gesellschaft die hasst
Im Verlauf der Geschichte von The Inner World 2 beleuchten wir verschiedene Aspekte einer Gesellschaft, die hasst. Und stellen dabei Absurditäten und auch Abgründe heraus. In vielen Punkten machen wir Anspielungen auf das Regime der Nationalsozialisten, ohne dabei zu konkret auf die Historie zu verweisen: Die Brezel-Symbolik (schwarze Brezel im weißen Kreis vor rotem Grund) taucht überall in der Welt in Form von Fahnen, Kleidung und Ansteckern auf. Schirmmützen und hohe schwarze Stiefel verweisen ebenfalls auf die NS-Zeit. Ebenso wie „Flötennasen-Verboten“- Schilder. Systemfeinde sitzen hier im Gefängnis, oder berichten von ihrer Flucht. Andere verraten Freunde, um Verwandte zu schützen. Viele Flötennasen wurden bereits in einen tiefen Brunnen geworfen, oder es steht ihnen unmittelbar bevor. Ein Asposer glaubt alles, was in der Zeitung mit den großen Bildern steht. Es gibt den hasserfüllten Eiferer, die intellektuelle Karriere-Persönlichkeit, den Mitläufer und auch den Widerständler. Man muss mit all diesen Figuren interagieren, um weiterzukommen und seine eigene Haut und die der anderen Flötennasen zu retten. Doch nicht nur die Figuren mit ihren Geschichten und der Grafikstil erzählen diese Welt. Auch Teile der Logikrätsel spielen immer wieder mit dem Thema des Faschismus: Einmal muss man eine goldene Galleonsfigur des alten Königs Conroy von einer Gondel entfernen, damit diese wieder fahrbereit wird. Ein anderes Mal nutzt man die absolute Befehlshörigkeit von Wachen, damit man zwischen ihre stramm aufgerichteten Lanzen etwas spannen kann. Und während man verhört wird, kann der fanatische Emil immer wieder durch die Konfrontation mit Fakten zur Weißglut gebracht werden. Er schlägt dabei so lange auf den Tisch, bis ihm die Büste seines eigenen Konterfeits auf den Kopf fällt. In einer anderen Szene wiederum rettet man die eigene Spielfigur, enttarnt dabei aber unabsichtlich eine verdeckt reisende Flötennase, die dann auch sofort abtransportiert wird.
Am Ende geht es in The Inner World 2 vor allem darum, Empathie zu schaffen; durch die Augen einer anderen Person zu blicken, die als andersartig und nicht gleichwertig eingestuft wird. Dieser Zugang ermöglicht erst den Perspektivwechsel und den Blick auf das große Ganze: Was macht so eine Situation mit den Verfolgten und den anderen Menschen der Gesellschaft? Wie kann es überhaupt zu so einer Situation kommen? Die Spielenden, als Robert, sind von Anfang an auf der Flucht und unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Das spürt man in einem interaktiven Medium ganz besonders. Die Hauptfigur muss über weite Teile des Spiels ihre Identität verschleiern und einen „Nasenschoner“ tragen, um nicht als Flötennase erkannt zu werden.
Erfahrungen
Den Erfahrungsberichten spielender Eltern und Kinder zufolge, geht unser Ansatz auf: Kinder beschäftigen sich mit realen Ereignissen ihrer Umwelt und ziehen plötzlich Parallelen zu Asposien und Roberts Situation. Oder sie erkennen im Geschichtsunterricht Roberts Geschichte wieder. So ist die Welt Asposien sowohl fantasievoll als auch traurig und humorvoll, aber alles andere als Eskapismus oder pures Entertainment. Sie ist eine Parabel auf gesellschaftliche Dynamiken, die sich in der Geschichte immer wieder wiederholen. Und auf die wir immer wieder unsere Aufmerksamkeit richten müssen. Dabei dürfen wir die Schwere der realen Verbrechen nicht verharmlosen. Doch gerade die Verbrechen des Nationalsozialismus sind so groß, dass sie als umfassender Komplex fast nicht greifbar oder spürbar zu machen sind. So müssen wir die Menschen auf unterschiedlichsten Wegen erreichen. Durchaus auch in der Auslassung eines direkten Bezugs auf das NS-Regime. Die Erweckung von Mitgefühl und Verständnis durch den Perspektivwechsel, zum Beispiel in einem Computerspiel, ist universell und birgt großes Potenzial für die Erinnerungskultur.
Sebastian Hollstein ist Game Director und Mitbegründer des Studios Fizbin.
Dieser Beitrag wurde ursprünglich und in unveränderter Fassung veröffentlicht in: Stiftung Digitale Spielekultur (Hg.): Erinnern mit Games. Digitale Spiele als Chance für die Erinnerungskultur. Berlin, 2020, S. 56 – 59.