Erinnerungskultur
Was ist Geschichte? Was ist Erinnerungskultur? und welche Rolle Spielen digitale Spiele in Geschichte und Erinnerungskultur?
Was ist Geschichte? Eine einfache Frage, die erstaunlich schwer zu beantworten ist: Geschichte ist zum einen Vergangenes, also alles, was zurückliegt. Als Wissenschaft ist sie aber nicht nur die Wiedergabe des Vergangenen »wie es vermeintlich wirklich war«, sondern auch dessen Deutung. Denn unsere Geschichte verändert sich mit uns. Sie hängt immer von der Gesellschaft ab, die sie produziert. Anders formuliert: Die Eckdaten der Kreuzzüge verändern sich nicht, ebenso wenig die beteiligten Menschen, dafür aber unserer Perspektive auf das Geschehene. Waren es früher vor allem Schlachten und Feldherren, die Geschichte »großer Männer«, die die Geschichtsbücher füllten, interessiert uns heute eher die Mentalität der restlichen Bevölkerung, ihr Zusammenleben und Alltag. Geschichte ist also nicht nur eine Geisteswissenschaft unter vielen, sie ist auch Teil unserer Erinnerungs- und der Populärkultur und damit unserer kollektiven Identität. Auch deshalb funktioniert sie so gut als Marke für Digitale Spiele und ist beliebter narrativer und ästhetischer Hintergrund für Hunderte neue Games jedes Jahr.
Spiel-Geschichte
Quellen sind – wenn man so will – der Treibstoff der Geschichtswissenschaft. Sogenannte Primärquellen sind all jene Zeugnisse, die von Akteur*innen der Vergangenheit bewusst oder unbewusst zurückgelassen wurden und auf deren Basis Forschende Aussagen über die Vergangenheit treffen können. Obwohl der Quellenbegriff eigentlich recht offen ist und neben schriftlichen auch bildliche und dingliche Quellen umfasst, liegen trotzdem weiterhin vor allem geschriebene Texte im Fokus der Forschung, also beispielsweise Akten, Urkunden, Tagebücher oder Briefe. Nicht zuletzt mit der Etablierung der sogenannten »Public History« hat die Geschichtswissenschaft ihre Quellenbasis aber erheblich ausgeweitet, weil nun neben vielen anderen Formaten auch Filme, Comics oder eben auch Digitale Spiele in den Blick genommen werden. »Geschichte in Games« und »Geschichte als Wissenschaft« sind dabei keineswegs deckungsgleich. Die Beziehung zwischen diesen beiden Polen ist grundsätzlich aus zwei Perspektiven analysierbar: Erstens sind Digitale Spiele eine neue historische Form, d.h. sie erzählen auf spezifische Art und Weise Geschichte, indem sie ihre wiederum spezifischen medialen Eigenschaften nutzen. Für die Geschichtswissenschaft von Interesse ist hier, mit welchen Mitteln Digitale Spiele Vergangenheit erzählen und somit eigene Arten von Geschichte schreiben, die sich qualitativ ganz grundsätzlich von wissenschaftlichen Monographien, aber auch von Historien-Romanen oder -Filmen unterscheiden. Zweitens sind Digitale Spiele immer Produkte ihrer jeweiligen Entstehungszeit und deswegen außerordentlich lohnende Quellen, um Aussagen über diese zu treffen. Sie geben Auskunft über die Gesellschaft, Kultur und Politik, die sie hervorgebracht hat. Zu erforschen ist hier, inwiefern sich dieser Entstehungskontext im Spiel selbst wiederfindet, also welche Rückschlüsse sich auf Basis der Spiele auf in deren Entstehungszeit vorherrschende Ideologien, Gepflogenheiten oder Zwänge ziehen lassen.
Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele – Ein kompliziertes Verhältnis
Digitale Spiele werden aktuell vor allem digital über weltweit aktive Verkaufsplattformen wie Steam oder GOG vertrieben, während sich die Geschichtswissenschaft nach wie vor schwertut, jenseits von Sprachbarrieren überhaupt wahrgenommen zu werden. Games haben somit einen erheblichen Einfluss auf eine deutsche, österreichische, schweizerische, aber eben auch auf eine europäische, ja eine globale Erinnerungskultur, d.h. darauf, wie Gesellschaften und Individuen mit ihrer Geschichte umgehen und welche Geschichte sie überhaupt erinnern. Geschichtsdarstellungen in Spielen weichen allerdings häufig ganz grundsätzlich vom aktuellen Geschichtsverständnis an den Hochschulen ab. Die Forschung hat spätestens seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert die Idee einer abgeschlossenen historischen Wahrheit in Frage gestellt, indem sie Geschichte immer als soziales und kulturelles Konstrukt begreift. Vereinfacht gesagt: Auch ein*e Historiker*in, die oder der einen wissenschaftlichen Text zu einem Thema verfasst, hat nur bestimmte Quellen ausgewertet sowie bestimmte Fragen an die Quellen gestellt und hat dann eine bestimmte Form der Erzählung gewählt, um das Thema darzustellen. Sie oder er hat sich, wenn gewissenhaft und gemäß wissenschaftlichen Standards gearbeitet wurde, zwar einer Rekonstruktion des Vergangenen angenähert, doch eine finale Aussage im Sinne eines »So ist es damals gewesen« kann es nicht geben, da die Vergangenheit nie in ihrer Vollständigkeit erfasst werden kann. Kurz: Leerstellen bleiben. In guter Forschung werden solche Leerstellen bewusst deutlich gemacht, es bleiben offene Fragen. An solche selbstkritischen Maßstäbe und Ansprüche müssen sich populäre Geschichtsformate wie das Digitale Spiel nicht halten – wenn den Entwickler*innen überhaupt diese geschichtswissenschaftliche Debatte um eine unerreichbare historische Wahrheit bewusst ist.
Zugleich bedienen aber auch Digitale Spiele – ob gewollt oder nicht – gewisse Geschichtsideologien. So mag es nur auf den ersten Blick erstaunen, dass Games ein Verständnis von Geschichte propagieren, wie es in den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts populär war, eine Geschichte, »wie es wirklich gewesen ist«, von »großen Männern« und epischen Schlachten. Eine Hinterfragung des paradigmatischen Fokus auf Kriege als zentrales Moment der Geschichte sucht man aber vergebens. Quellenkritik, wie sie die Geschichtsforschung als wissenschaftliche Methode verlangt, hat hier scheinbar keinen Platz. Konflikte zwischen Geschichtswissenschaft und Digitalem Spiel bzw. dessen Macher*innen sind somit vorprogrammiert. Vielfach ist Gegenstand dieser Konflikte, dass Digitale Spiele mit historischem Setting Geschichtsklitterung betreiben, d.h. Geschichte verfälschen, indem sie sich stark vom wissenschaftlichen Konsens entfernen würden. Grundsätzlich falsch ist eine solche Einschätzung nicht und doch hat sich der Forschungsbereich im letzten Jahrzehnt von einer solchen, absolut gedachten Position zunehmend entfernt. Ein Grund dafür ist, dass dieser Vorwurf einem Fehlschluss aufsitzt. Denn Games müssen naturgemäß nicht denselben wissenschaftlichen Standards genügen wie wissenschaftliche Texte, ebenso wenig wie auch Romane und Filme. Es ist nicht Aufgabe der Populärkultur sich kritisch mit Geschichte auseinanderzusetzen, denn das ist schließlich der Auftrag der Geschichtswissenschaft.
Spiele machen Geschichte
Das Digitale Spiel unterscheidet sich insofern von anderen Medien als es per Definition interaktiv ist. Es muss von einer oder mehreren Personen gespielt werden, um als Spiel zu existieren. Das eröffnet einige Potenziale, die andere, vornehmlich lineare Formate der Geschichtsvermittlung nicht haben. So erlauben Games den Spielenden, die komplexen Handlungswelten einzelner historischer Figuren oder auch größerer sozialer Einheiten wie beispielsweise Staaten nachzuspielen. Durch die Offenheit des Programms weichen Spiele so zumindest in der Theorie – in der Praxis allerdings selten – von den teleologischen Narrativen – Ereignis A musste automatisch zu Ereignis B führen – anderer Medien ab.
Am Beispiel eines Globalstrategiespiels wie Sid Meier’s Civilization Ⅵ (Firaxis Games, 2016), in welchem Spielende eine Zivilisation ihrer Wahl zur Weltherrschaft führen, lässt sich das gut verdeutlichen. Es ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht interessant, wie das Spiel den Spielenden einen Eindruck davon vermittelt, welche diversen Gewerke ineinandergreifen und wie viele Unwägbarkeiten das Schicksal ganzer Völker bestimmen. Hier spielt dem Digitalen Spiel eine Besonderheit seiner Medialität in die Karten: Es kann komplexe historische Sachverhalte und Systeme darstellen und simulieren, deren Komplexität für andere Vermittlungsformate erheblich reduziert werden müsste. So stellt Civilization Ⅵ beispielsweise schwer greifbare Prozesse wie internationalen Kulturaustausch oder so abstrakte Größen wie Staatsformen dar und erlaubt uns damit – trotz notwendiger Vereinfachungen – neue anregende Perspektiven auf eine Globalgeschichte. Doch – und damit kommen wir zur Kehrseite der Medaille – verformt die Programmstruktur von Civilization Ⅵ die erzählte Geschichte derart, dass bereits zahlreiche Historikerinnen und Historiker vehemente Kritik an der Reihe geübt haben. Populäre und am Markt erfolgreiche Spiele müssen in der Regel den Spielenden die Möglichkeit geben, selbstwirksam in der Spielwelt handeln zu können, also »Agency« zu haben. Hierfür sind allerdings nicht alle historischen Spielesettings gleichermaßen geeignet, bzw. werden bestimmte historische Kontexte im Namen der Spiellogik derart verformt, dass sie möglichst große Handlungsfreiheit und -macht eröffnen. Wie plausibel ist es etwa, wenn das Schicksal eines Stammes von der Ur- und Frühgeschichte bis ins »Raketenzeitalter« in der Hand eines Menschen bleibt? Ist Expansion wirklich das höchste historische Ziel? Nicht zufällig werden Globalstrategiespiele wie Civilization Ⅵ auch als 4X-Games bezeichnet, wobei 4X für »eXplore«, »eXpand«, »eXploit« und »eXteminate« steht. Und so erzählt Civilization Ⅵ dann auch Globalgeschichte als eine Geschichte von gewaltsamer Expansion, Ausbeutung und sogar Ausrottung ganzer Kulturen und nimmt dazu zu keinem Zeitpunkt eine kritische Haltung ein. Damit normalisiert die Spielereihe Krieg und Gewalt als den Modus Operandi der Menschheitsgeschichte – auch wenn Möglichkeiten wie der »Forschungssieg« oder »Kultursieg«, die in den letzten Teilen der Reihe hinzugekommen sind, diese Tendenz etwas abgeschwächt haben. Zugleich bedienen die meisten dieser Spiele den Mythos des allmächtigen Anführers, der sich weder um Wahlen noch um Beliebtheit seines digitalen Volkes wirklich Sorgen machen muss.
Doch Civilization Ⅵ soll hier nur stellvertretend für einen breiten Korpus an Games mit historischem Setting stehen, die mehrheitlich und bis heute gewalt- und konfliktbasierte Geschichte erzählen. Zu nennen wären etwa noch Ego-Shooter, die sich des Zweiten Weltkriegs als Szenario bedienen, darunter die Call-of-Duty-Reihe (Activision, seit 2003) oder die Battlefield-Reihe (EA DICE, seit 2002). Die Assassin’s-Creed-Reihe (Ubisoft, seit 2007) wiederum springt durch die Epochen (ptolemäisches Ägypten, Dritter Kreuzzug in Jerusalem, usw.), erzählt aber jede dieser Epochen als blutigen Kampf der Geheimorganisationen der Templer und Assassinen um die Weltherrschaft. Strategiespiele wie die Age-of-Empires-Reihe (Microsoft, seit 1997) entführen Spielende auch gerne in ein europäisches Hochmittelalter, verlangen von den Spielenden aber hauptsächlich, Armeen aufzubauen und diese in Schlachten zu führen.
Nimmt man die Medialität des Digitalen Spiels ernst, so ist die Frage danach, ob in diesen Spielen die Geschichte korrekt dargestellt wird, müßig. Die Antwort auf diese Frage muss notgedrungen »Nein« lauten. Doch: Allzu oft wird von bestimmten Spielen behauptet, dass sie historisch authentisch seien, wobei Authentizität, Korrektheit und Akkuratesse in der Regel zu einem diffusen Ganzen verschwimmen. So lässt sich nur noch schwer bestimmen, was überhaupt noch gemeint ist, wenn verschiedene Akteur*innen von »authentischen Spielen« sprechen. Authentizität ist in diesem Sinne ein Modewort und wird von Marketingabteilungen zur Bewerbung ihrer Spiele genutzt. Durch die Behauptung, sich besonders nah an einer vermeintlichen historischen Wahrheit zu bewegen, soll ein Mehrwert suggeriert werden. Zugleich fordern aber auch viele Spielende eine solche Authentizität vehement ein und kritisieren – nicht selten auf Basis ihrer eigenen, nicht unbedingt wissenschaftlich fundierten Geschichtsbilder – solche Spiele, die sie nicht als authentisch empfinden. Um diesen Erwartungen zu entsprechen, stellen vor allem große Produktionsstudios mittlerweile Anstrengungen an, Historiker*innen einzubinden, um ihr Spielesetting zu zwischen einer genuinen Ausrichtung am Forschungsstand und einer nur verkaufssteigernden weil marketingwirksamen Verifizierung der Spiele. Zusammenfassend ist es aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive daher produktiver, die Entstehungskontexte von Spielen in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, warum bestimmte Settings, Aussagen und Darstellungsformen dominieren oder dominiert haben. Warum fokussieren wir auf diese oder jene historische Periode, Gruppe oder Person und ignorieren die anderen? Was sagt das über unsere Populär- und Erinnerungskultur und unsere Gesellschaft aus? Dies sind die Fragen, welche die Geschichtswissenschaft seit den 2010er Jahren zunehmend beschäftigen.
Spiele sind Geschichte
Es gilt an dieser Stelle festzuhalten, dass sich unsere bisherigen Bemerkungen vor allem auf hochbudgetierte Produktion, sogenannte »AAA«-Spiele, beziehen. Für diese Titel, deren Produktionsbudgets sich mittlerweile in dreistelligen Millionenbeträgen messen lassen, lässt sich festhalten, dass sie zum Erfolg und damit zum Einnehmen ebenfalls enormer Summen geradezu gezwungen sind. Deshalb gehen deren Entwicklungsstudios in der Regel den Weg des geringsten Widerstandes, passen also das historische Setting den Spielgewohnheiten der Konsument*innen an. Dieses Vorgehen ist an und für sich legitim, da Spiele – wie erläutert – keinen unbedingten Bildungsauftrag haben. Aber es reduziert die enorme Bandbreite menschlicher Geschichte auf ein tausendfach wiederholtes Minimum. Außerdem führt es dazu, dass traumatische und kontroverse Geschichte meist ausgespart oder gar verharmlost wird. Problematisch ist das, wenn man sich erneut Reichweite und Erfolg des Mediums vor Augen führt. Wir müssen davon ausgehen, dass solche populärkulturellen Bilder der Vergangenheit unsere Erinnerungskulturen prägen und – analog zu anderen populärkulturellen Medien – ausverhandeln, was sag- und zeigbar ist in unserer Gesellschaft. Auch deswegen sind sie als Quelle von Bedeutung. Prominente Beispiele sind hier die Aussparung der Sklaverei in der Wirtschaftssimulation Anno 1800 (Ubisoft Blue Byte, 2019), die stereotypisierte Mittelalterdarstellung eines Kingdom Come: Deliverance (Warhorse Studios, 2018) oder die Aussparung des Holocaust in der deutschen Version von Wolfenstein Ⅱ: The New Colossus (Machine Games, 2017).
Sogenannte Independent Games (kurz: »Indies«) können bei der Umsetzung eines historischen Settings andere Schwerpunkte setzen und die Interaktivität des Mediums mit dem tatsächlichen Ziel der Geschichtsvermittlung einsetzen. Solche Kleinstentwicklungen sind nur eingeschränkt mit Großproduktionen zu vergleichen, weil sie anderen Entwicklungslogiken unterworfen sind. Dennoch helfen sie – bei Erfolg – das Spektrum der Spiele mit historischem Setting zu erweitern, das von audiovisuell hochgradig beeindruckenden Rekonstruktionen historischer Orte mit komplexen, meist actiongeladenen Handlungsmöglichkeiten bis hin zu im Vergleich minimalistischen, aber innovativ den Forschungsstand verarbeitenden Titeln reicht. Klar muss sein, dass beide Arten von Spielen und alles, was sich zwischen diesen Polen bewegt, Erinnerungskulturen prägen und dass sich diese Spiele ihrer Verantwortung bewusst sein sollten. Auch wenn Digitale Spiele keinen didaktischen Anspruch verfolgen, so sind sie sicherlich nicht »nur Spiele« oder »nur Unterhaltung«, wie vielfach argumentiert wird, sondern immer auch ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen und zu Geschichte werden.
Eugen Pfister leitet das Forschungsprojekt »Horror-Game-Politics« an der Hochschule der Künste Bern.
Felix Zimmermann ist Public Historian.
Literatur
- Nolden, Nico: Geschichte und Erinnerung in Computerspielen. Erinnerungskulturelle Wissenssysteme. De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2019
- Pfister, Eugen; Winnerling, Tobias: Digitale Spiele, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 10. Januar 2020: docupedia.de/zg/Pfister_Winnerling_digitale_spiele_v1_de_2020
- Schwarz, Angela: »Join us in making history«. Muster von Geschichtsinszenierung im Computerspiel. In: Zugänge zur Public History. Formate – Orte – Inszenierungsformen (hrsg. von Frauke Geyken und Michael Sauer). Wochenschau Verlag, Schwalbach am Taunus 2019, S. 41–61.
Dieser Beitrag wurde ursprünglich und in unveränderter Fassung veröffentlicht in: Olaf Zimmermann & Felix Falk (Hg.): Handbuch Gameskultur. Über die Kulturwelten von Games. Berlin, 2020, S. 110 – 115.