Sozialadäquanz

Jörg Friedrich
Veröffentlicht am 7. August 2024

Als die Bundesrepublik Deutschland 1949 gegründet wurde, wollte man sicherstellen, dass die von den Alliierten verhängten Verbote aller nationalsozialistischen Organisationen dauerhaft bestehen blieben und so entstand im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) unter anderem der §86a, der das „Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ unter Strafandrohung verbietet.

Die erste Organisation, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt wurde und deren Kennzeichen und Symbole man verbot, war die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP). Wer gegen den Paragrafen §86a StGB verstößt, indem er ein solches Kennzeichen, sei es ein Symbol oder eine „typische Geste“, wie z.B. den Hitlergruß verwendet, wird mit einer Geldstrafe oder bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft. Begründet wird dies damit, dass der Staat, um die Freiheit und das Wohl der Bürger zu verteidigen, die Meinungsäußerungsfreiheit im Falle dieser Symbole bewusst einschränken muss, um der Bedrohung durch die Organisationen, die sie repräsentieren, entgegenzuwirken. Bei seiner Einführung war §86a StGB aber auch ein Zugeständnis an die Opfer der NS-Herrschaft, die sich auf deutschem Boden nie wieder mit den Symbolen ihrer Peiniger konfrontiert sehen sollten. Diese Einschränkung ist nachvollziehbar, aber sie wirft die Frage auf, was geschieht, wenn jemand z.B. die Geschichte des Nationalsozialismus dokumentarisch oder künstlerisch verarbeiten möchte und dabei auf diese Kennzeichen zurückgreift. Wie sollten die nächsten Generationen von Deutschen überhaupt lernen, welche Symbole zu vermeiden sind, wenn sie sie nie sehen können? Für diese Fälle wurde eine Ausnahme geschaffen. Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen dürfen verwendet werden, sofern dies „im Kontext von Kunst, Wissenschaft, Forschung oder Lehre“ geschieht, dann gilt die sogenannte „Sozialadäquanz“. Aufgrund dieser Ausnahme ist das Zeigen verfassungswidriger Symbole in Geschichtsbüchern, Filmen, Theaterstücken, Romanen, Comics, in Museen und allen anderen Zusammenhängen, auf die sich die Sozialadäquanzklausel anwenden lässt, erlaubt – solange keine Verherrlichung des Nationalsozialismus stattfindet.

Sozialadäquanz in Computerspielen?

In in Deutschland veröffentlichten Computerspielen fand man vor August 2018 jedoch keine verfassungswidrigen Symbole. Die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK), die in Deutschland Digitale Spiele für eine verbindliche Altersfreigabe prüft, hatte bis August 2018 Spiele von der Prüfung ausgeschlossen, in denen verfassungswidrige Kennzeichen verwendet wurden. Ein solches, nicht durch die USK gekennzeichnetes Spiel, ist zwar nicht verboten, aber Werbung und Verkauf sind stark eingeschränkt. Um diese Einschränkung zu umgehen und eine Alterskennzeichnung durch die USK zu erhalten, ersetzten viele Hersteller in den deutschen Versionen ihrer Computerspiele mit historischem Setting die verfassungswidrigen Kennzeichen mit weniger belasteten Symbolen (z.B. dem Balkenkreuz), Fantasiesymbolen oder fiktionalisierten das Szenario in Gänze.

Through the Darkest of Times

2017 begannen Sebastian Schulz und ich ein Computerspiel namens Through the Darkest of Times (Paintbucket Games, 2020) zu entwickeln, in dem man eine zivile Widerstandsgruppe in Berlin zur Zeit des Nationalsozialismus spielt. Während das Leben für Gegner des Regimes und für die von den Nazis verfolgten Minderheiten immer schwieriger wird, gilt es für die Spieler*innen, eine Widerstandsgruppe aufzubauen und eine Vielzahl von Aktionen durchzuführen, um dem Regime standzuhalten und Verfolgten zu helfen. Auch wenn die gespielte Widerstandsgruppe fiktiv ist, orientierten wir uns an realen Menschen und Gruppen und betteten die fiktiven interaktiven Handlungen der Spieler*innen in die tatsächlichen, historischen Ereignisse ein. Wir fanden, dass es zu wenige Computerspiele gab, die die Zeit des Nationalsozialismus aus der Sicht von Zivilpersonen erzählten. Antisemitismus, Zerstörung der Demokratie oder der Holocaust fanden in Digitalen Spielen kaum statt und das, obwohl der Zweite Weltkrieg ein überdurchschnittlich häufig gewähltes Szenario ist. In Spielen mit einem solchen Szenario sind die Rollen klar verteilt. Die Guten (Alliierten) kämpfen gegen die Bösen (Achsenmächte). Auch wegen dieser klaren Zweiteilung ist dieses Setting in Spielen so beliebt. Allerdings findet abgesehen von dieser sehr groben Einordnung keine weitere Bestimmung der Parteien statt. Im Gegenteil lässt sich hier von einer Entpolitisierung und Entideologisierung des Konfliktes sprechen. Das bedeutet, dass die menschenverachtende Rassenideologie der Nationalsozialisten kaum zur Sprache kommt, dass die Rolle der zahllosen Kollaborateure und vermeintlich unbeteiligten Bystander bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten ausgeblendet und dass ziviler Widerstand unsichtbar wird. Außerdem findet der Holocaust überhaupt keine Erwähnung, sodass solche Spiele in letzter Konsequenz zu einer Weißwaschung des Nationalsozialismus beitragen – auch wenn dies mit ziemlicher Sicherheit nicht intendiert ist.

Through the Darkest of Times

Thema: Antisemitismus, Holocaust, Nationalsozialistische Herrschaft, Politische Radikalisierung, Widerstand, Zweiter Weltkrieg
Erscheinungsjahr: 2020

Unser Ziel war, mit Through the Darkest of Times neue Wege aufzuzeigen, wie Computerspiele mit diesen Themen umgehen können. Aber 2017 mussten wir einen Weg finden, mit dem §86a StGB und dem Ausschluss von Spielen mit verfassungswidrigen Kennzeichen von der USK-Prüfung umzugehen. Wir wollten das Szenario nicht fiktionalisieren, denn uns war wichtig, die Geschichte des zivilen Widerstands während des Nationalsozialismus zu erzählen. Wir wollten auch keine eigenen Kennzeichen erfinden. Es blieb uns daher nur der Weg, die Symbole wegzulassen. Im Ergebnis trugen dann SA-Männer eine rote Armbinde mit einem weißen Kreis. Wir waren mit dieser Lösung zufrieden, denn jeder verstand, was gemeint war und wir hatten die Regeln eingehalten – so dachten wir zumindest. Aber wir mussten schnell lernen, dass es nicht so einfach werden würde, wie wir gedacht hatten. Hakenkreuze wegzulassen, war eine Sache, aber den Hitlergruß zu entfernen, schon deutlich schwerer. An einer Szene, die wir auf der gamescom 2018 zeigen wollten, wurde uns das besonders schmerzlich bewusst: Die Spielerin wird Zeugin der öffentlichen Bücherverbrennung auf dem Opernplatz in Berlin. Mitglieder der NS-Studentenschaft hatten sich damals um ein Feuer versammelt, warfen Bücher missliebiger Autor*innen hinein, brüllten NS-Parolen und reckten den rechten Arm zum Hitlergruß. Aber hätten wir das so für unser Spiel abgebildet, hätte uns die USK keine Altersfreigabe erteilen können und wir das Spiel nicht auf der gamescom zeigen dürfen.

Wir versuchten es so zu gestalten, dass man nur das Feuer sehen würde. Die NS-Studenten wurden abgeschnitten, ihre salutierenden Arme versteckt, die Parolen umgeschrieben oder weggelassen. Diese Veränderungen machten aus dieser eindeutigen, auf Anhieb erkennbaren Szenerie plötzlich ein beliebiges Feuer; die jungen Männer in ihren kurzen Hosen hätten genauso gut Pfadfinder sein können. Die ganze Szene wurde in ihrer historischen und erzählerischen Aussage schwach und beliebig. Hatten wir uns bislang mit der besonderen Einschränkung für Digitale Spiele abgefunden, wurde uns nun zum ersten Mal wirklich bewusst, wie schwer es werden würde, unter diesen Bedingungen eine Geschichte aus jener Zeit zu erzählen. Uns fehlten buchstäblich die Worte.

Sozialadäquanz in Computerspielen!

Wir begannen die Situation ungerecht zu finden: Kein anderes Medium hatte dieses Problem. Kein Filmemacher musste sich darüber Sorgen machen, kein Autor, kein Comiczeichner. Aber weil wir diese Geschichte durch ein Computerspiel erzählten, spielte der Kontext keine Rolle. Verfassungsfeindliche Symbole schlossen eine USK-Bewertung aus. Ohne USK-Bewertung war eine Veröffentlichung in Deutschland unmöglich. Am Ende hatten wir Glück. Am 9. August 2018, nur zwei Wochen vor der gamescom, auf der wir unser Spiel einer großen Öffentlichkeit zeigen wollten, änderte die Oberste Landesjugendbehörde (OLJB) die Regeln und kam zu einer „veränderte[n] Rechtsauffassung“. Dies dürfte unter anderem mit der kritischen Berichterstattung zu Wolfenstein Ⅱ: The New Colossus (Machine Games, 2017) zu tun gehabt haben. In der deutschen Version des Spiels waren Verweise auf den Holocaust entfernt worden, die es in der internationalen Version noch gegeben hatte, was zu großer Aufmerksamkeit für das Thema führte. Zuvor konnte das Serious Game Attentat 1942 (Charles Games, 2017), das die Geschichte der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nationalsozialisten erzählt, nicht in Deutschland veröffentlicht werden, was ebenso für Kontroversen sorgte. Doch nach der Neupositionierung der OLJB durften Digitale Spiele von nun an trotz verfassungsfeindlicher Symbole bei der USK zur Prüfung eingereicht werden und konnten abhängig vom Kontext eine Altersfreigabe erhalten. Wir durften nun in Through the Darkest of Times die Dinge so erzählen, wie sie sich tatsächlich ereignet hatten. Das Spiel bekam von der USK eine Altersfreigabe ab zwölf Jahren und wird heute u.a. von Lehrer*innen im Geschichtsunterricht eingesetzt. Es lässt sich abschließend festhalten: Die Anwendung der Sozialadäquanzklausel auf Games öffnet für das Medium die Tür, gleichberechtigt an der Erinnerungskultur teilhaben und einen verantwortungsvollen Umgang mit unserer Vergangenheit mitgestalten zu können.

Jörg Friedrich ist Game Designer und Gründer des unabhängigen Entwicklers Paintbucket Games.

Literatur

  • Oerding, Henrik: Mit Hakenkreuzen spielt man doch. Zeit Online, 2018: zeit.de/digital/games/2018-10/videospiel-through-darkest-times-nazizeit-hitlergruss-hakenkreuz  
  • Zimmermann, Felix: Wider die Selbstzensur – Das Dritte Reich, nationalsozialistische Verbrechen und der Holocaust im Digitalen Spiel. Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele, 2017: gespielt.hypotheses.org/1449  
  • Zimmermann, Felix: Den Holocaust spielen. In: Politik & Kultur – Zeitung des Deutschen Kulturrates. 4/2017, S. 11.  
  • Dieser Beitrag wurde ursprünglich und in unveränderter Fassung veröffentlicht in: Olaf Zimmermann & Felix Falk (Hg.): Handbuch Gameskultur. Über die Kulturwelten von Games. Berlin, 2020, S. 116 – 119.  

 

Dieser Beitrag wurde ursprünglich und in unveränderter Fassung veröffentlicht in: Olaf Zimmermann & Felix Falk (Hg.): Handbuch Gameskultur. Über die Kulturwelten von Games. Berlin, 2020, S. 116 – 119.