Forschung, Kultur

Das war (nicht) ich! – Handlungsmöglichkeiten in digitalen Spielen

© Jasmina El Bouamraoui für Stiftung Digitale Spielekultur

Abseits der Game Studies, einer jungen interdisziplinären Wissenschaft, die sich mit digitalen Spielen beschäftigt, existieren Begriffe, die oft sehr frei oder im populärwissenschaftlichen Kontext verwendet werden. Dazu gehört die fast mythische „ludonarrative Dissonanz“, aber noch häufiger stößt man auf den Begriff der „Player Agency“.

Player Agency bezeichnet die Kontrolle und den Einfluss, den eine spielende Person über Entwicklungen und Handlungen in der Spielwelt ausübt. Dies umfasst die Entscheidungs- oder Handlungsfreiheit des Spielenden – oder zumindest die Illusion davon. Game Design ähnelt oft einem Zaubertrick: Wenn das gesamte Spielgeschehen so gestaltet ist, dass ich nie versuche, etwas Unmögliches zu tun, entsteht zumindest das Gefühl uneingeschränkter Freiheit. Spielende bemerken oft erst beim zweiten Spieldurchlauf, wie begrenzt ihr tatsächlicher Einfluss ist. Im Idealfall bleibt unbemerkt, dass man unbewusst genau den vorgegebenen Weg wählt. Meistens wird jedoch im Hintergrund geschickt eine Situation konstruiert, die den Blick auf einen bestimmten Weg lenkt und durch kleine, ansprechende Details fesselt, ohne dass man den Grund dafür genau benennen kann. Doch so einfach ist es nicht immer: Dass Game Designer*innen die Spieler*innen durch ihr Spiel leiten, funktioniert nur, wenn sich alle an etablierte Erwartungen und Grundregeln halten.

In diesem Kontext wird oft der Begriff der „Media Literacy“ allgemein oder „Game Literacy“ im Speziellen verwendet. Dieser bezeichnet die Fähigkeit, ein Medienprodukt oder ein Spiel „lesen“ zu können. Ein häufig zitiertes Beispiel hierfür sind die roten Fässer in Spielen. Dass rote Fässer explodieren, wenn man sie schlägt oder anschießt, erscheint für Personen mit Game Literacy selbstverständlich, ist jedoch für Laien oft völlig unverständlich.

Die Entscheidungen in Spielen sind oft durch die Strukturen etablierter Erwartungen und Grundregeln eingeschränkt. In „Star Wars“-Spielen oder der „Mass Effect“-Reihe (BioWare, 2007-2017) stehen Spieler*innen vor schweren Entscheidungen, die meist stark kodiert sind und sich auf Dichotomien wie Gut oder Böse, selbstsüchtig oder altruistisch, Light Side oder Dark Side reduzieren lassen. Typischerweise signalisieren Farben wie Blau und Rot eindeutig, welche Wahl „richtig“ ist, wobei „richtig“ hier oft nur die bevorzugte Belohnung bedeutet: Die „Guten“ erhalten heilende und helfende Items, während die „Bösen“ mehr Munition oder spezielle Fähigkeiten wie das Schießen von Blitzen bekommen. Interessant wird es, wenn das Spiel keine offensichtlichen Belohnungen oder Sanktionen vorgibt. In solchen Fällen finden sich Spieler*innen oft in Situationen wieder, in denen sie sich ernsthaft fragen: „War das jetzt die richtige Entscheidung?“ Die „Fallout“-Serie (Black Isle Studio/ Bethesda Games Studio, 1997-2018) bietet eine Vielzahl solcher Entscheidungen, die die Spielenden zum Nachdenken anregen. Spiele, die moralische Fragen aufwerfen, die nicht im Spiel selbst beantwortet werden, sind oft komplex konzipiert. „Fallout“ ähnelt einem klassischen Rollenspiel, in dem viele Orte und Geschichten vom Rest der Welt isoliert sind, was es einfacher macht, Spieler*innen mit komplexen Dilemmas zu konfrontieren. Im Gegensatz dazu haben Spiele wie „Mass Effect“ den Anspruch, die Entscheidungen der Spielenden in der gesamten Handlung widerzuspiegeln, was eine allgemeine Player Agency im Gegensatz zu einer spezifischen darstellt. Der Mehraufwand für das Game Design, der mit diesem Ansatz einhergeht, erklärt, warum Spiele wie „Baldur’s Gate 3“ (Larian Studios, 2023), die den Spielenden ein umfangreiches Angebot an expliziten und versteckten Handlungsmöglichkeiten bieten, die fast alle in die Gesamthandlung integriert sind, so beeindruckend sind und in vielen Spielerezensionen hervorgehoben werden.

Es gibt auch Spiele, die die etablierten Erwartungen und Grundregeln bewusst durchbrechen. Ein herausragendes Beispiel ist „Spec Ops: The Line“, veröffentlicht 2012 von Yager. Auf den ersten Blick präsentiert es sich als typischer 3rd-Person-Military-Action-Cover-Shooter der 2010er Jahre. Doch mit der Zeit entpuppt es sich als Antikriegsspiel, in dem zunehmend die Grenze zwischen dem gesteuerten Charakter und dem Spielenden verschwimmt. Die Frage des Spiels, ob man sich schon wie ein*e Held*in fühlt, macht deutlich, dass hier die konventionellen Regeln gezielt außer Acht gelassen werden. Es lässt sich sagen, dass die zentralen moralischen Dilemmas des Spiels nicht innerhalb seiner Grenzen gelöst werden, sondern vielmehr den Spielenden als persönliche Herausforderung mitgegeben werden. Einer der unkonventionellsten und zugleich kontroversesten Ansätze des Spiels ist, dass das „Nicht-Weiterspielen“ eine bewusste und vorgegebene Handlungsoption darstellt. Diese Wahl steht in einem extremen Kontrast zum Medium des digitalen Spiels, das normalerweise kontinuierliches Engagement erwartet.

Die Frage, welche Handlungen das Spiel von den Spielenden verlangt und welche Optionen es bereitstellt, ist keineswegs trivial. Es ist entscheidend zu erkennen, dass jede vom Spiel gebotene Möglichkeit, einen Konflikt oder ein Dilemma zu lösen, genauso bedeutend ist wie die Optionen, die es vorenthält. Hinter jeder dieser Entscheidungsmöglichkeiten verbergen sich oft komplexe Fragestellungen.

Ein faszinierender Zugang zur Auseinandersetzung mit dieser Thematik ist das Stiftungsprojekt „Games und Wertebildung“. In dessen Rahmen wurden drei „Playdates“ konzipiert, um zu erkunden, wie integrative Wertebildung bei jungen Erwachsenen gestaltet werden kann. Bei einem dieser Playdates hatte ich die Gelegenheit, den beiden Influencer*innen Angelina und Papfi das Spiel „Spec Ops: The Line“ näherzubringen.

Abschließend lässt sich festhalten, dass die Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungen in digitalen Spielen weit mehr sind als bloße Spielmechaniken. Sie reflektieren grundlegende menschliche Fragen nach Moral, Freiheit und Konsequenz – also nach Wertebildung. Spiele wie „Spec Ops: The Line“, „Mass Effect“ und „Fallout“ demonstrieren dabei, wie vielseitig der Ansatz sein kann, kratzen aber auch nur an der Oberfläche. Zukünftig werden wir sehen, wie Entwickler*innen und Forscher*innen diese Konzepte weiter erforschen und noch tiefergehende, immersive Spielerfahrungen schaffen werden, die nicht nur unterhalten, sondern auch zum Nachdenken anregen und lehrreich sind. Projekte wie „Games und Wertebildung“ sind hier wichtige Schritte. Ich bin davon überzeugt, dass dies dazu beitragen wird, dass Spiele nicht nur als Unterhaltungsmedium, sondern auch als Medium für Bildung und persönliche Entwicklung in der breiten Gesellschaft anerkannt werden.

Zum Schluss lohnt es sich, einen Blick in die Zukunft zu werfen, insbesondere auf die Rolle der künstlichen Intelligenz und Large Language Models in der Spieleentwicklung. Diese Technologien haben das Potenzial, unsere bestehenden Konzepte von Player Agency grundlegend zu verändern oder sogar auf den Kopf zu stellen. Sie könnten neue Formen der Interaktivität und des Storytellings ermöglichen, die unsere Vorstellungen von Entscheidungsfreiheit und Spielerfahrung neu definieren. Dieses Thema, so faszinierend es auch ist, würde allerdings den Rahmen dieser Betrachtung sprengen.