SEASON: A Letter to the Future

In Erwartung einer bevorstehenden Apokalypse begleiten Spieler*innen in SEASON: A Letter to the Future die Protagonistin Estelle auf ihrer Reise durch die fiktive Spielwelt. Indem das Hauptziel darin besteht, Audioaufnahmen, Fotografien und Erzählungen zu sammeln, rückt SEASON das Schaffen und Festhalten von Erinnerungen selbst in das Zentrum der Spielerfahrung.

Allgemeine Infos

  • Entwickler: Scavengers Studios (Kanada)
  • Publisher: Scavengers Studios
  • Erscheinungsjahr: 2023
  • Genre: Adventure, Role-Playing (RPG)
  • Thema: (Post-)Apokalypse, Wissenschaftsgeschichte
  • Zugänglichkeit: Deutsche Sprachversion, Englische Sprachversion
  • Vermittlungspotenzial Gering
  • Zeitaufwand Mittel
  • Komplexität Mittel
Erklärungen zur Bewertung

Trailer

Erinnerungskulturelle Einordnung

Autor: Ann-Kathrin Günther

Ann-Kathrin Günther hat im Oktober 2023 ihren Master der Neueren deutschen Literatur an der Universität in Bamberg absolviert. In ihrer Masterarbeit hat sie sich mit Posthumanismus unter anderem in Detroit: Become Human auseinandergesetzt.

SEASON: A Letter to the Future stellt eine junge Frau namens Estelle in den Vordergrund. Estelle verlässt nach einer apokalyptischen Vision ihres besten Freundes ihr Dorf, um die Welt zu dokumentieren, bevor diese untergeht. Ihre fiktive Geschichte spielt in einem ebenso fiktiven Zeitalter, in einem nicht näher benannten Jahr nach 780. Spielende steuern Estelle und erkunden auf einem Fahrrad die Welt und ihre Bewohner*innen. Dabei gilt es, Landschaften und Lebensgeschichten durch Fotografien und Tonaufnahmen einzufangen, um sie für die Nachwelt in einem Tagebuch festzuhalten. Auf ihrer Reise gelangt Estelle in das Tieng-Tal, dessen Einwohner*innen kurz davor sind, ihre Heimat zu verlieren, da ein Staudamm gesprengt werden soll – was als weiteres Zeichen dafür gedeutet wird, dass das Zeitalter, in dem Estelle lebt, zu Ende geht.

Erinnerungskulturelle Bedeutung

SEASON: A Letter to the Future stellt das Thema Erinnerung in den Fokus. Dabei geht es aber nicht um das Erinnern an ein bestimmtes, historisches Ereignis. Das Spiel reflektiert die Praktik des Sich-Erinnerns und der Archivierung in einer fiktiven Welt. Estelle sieht es als ihre Aufgabe an, die Welt und die Geschichten ihrer Bewohner*innen zu dokumentieren, bevor eine nicht näher definierte Apokalypse hereinbricht. Dass diese kommen wird, wissen sie und andere Bewohner*innen des Bergdorfes, da ihr Freund Paco eine Vision hatte. Außerdem ist in ihrer Welt allgemein bekannt, dass Zeitalter, auf Englisch „Seasons“, abrupt zu Ende gehen. Es gab eine Zeit der Moderne und Industrialisierung, eine Goldene Zeit, in der alle Menschen im Luxus lebten, und es gab eine Zeit des Krieges, in dem Familien getrennt wurden. Wie genau es in diesen Zeitaltern aussah, was davor war und was danach sein wird, ist nicht weiter bekannt. Um die Erinnerungen an ihre Zeit zukünftig aufrechtzuerhalten, dokumentiert Estelle ihre Welt in einem Tagebuch, das sie in ein Museumsgewölbe bringen soll, in dem die Informationen laut der Dorfältesten geschützt wären. Das Archiv steht im Vordergrund, Spielende selektieren, dokumentieren und ordnen die Aufnahmen und Fotografien selbst an und haben somit einen Einfluss darauf, woran sich erinnert werden wird. Dabei wird deutlich, dass Erinnerungen einen subjektiv geprägten Zeitgeist wiedergeben und dass es Archive und Museen benötigt, um diesen festzuhalten.

Diskussionspunkte

Auch ohne den Krieg und dessen Kontext zu kennen, erfahren Spielende die Auswirkungen der Kriegszeit und der vergangenen Ereignisse durch die Geschichte der Leute und den Spuren in der Landschaft. Es gibt zerstörte Straßen und Erzählungen wie die der Dorfältesten, die ihre Eltern durch den mysteriösen Krieg verloren hat. Die Bewohner*innen des Tieng-Tals dagegen können von den Annehmlichkeiten der Goldenen Zeit berichten, das darüber hinaus schemenhaft bleibt; gleiches gilt für seltsame Erkrankungen wie die Traumkrankheit, durch die Betroffene in ewigen Schlaf verfallen. Doch gerade die Ungewissheiten sind Ausgangspunkt des Spiels, denn es gab bislang keine Geschichtsschreibung. Die heutigen Menschen wie Estelle sind darauf angewiesen, was ihnen Überlebende erzählen. Darum möchte Estelle, dass sich nachfolgende Generationen an ihre Zeit erinnern können, indem sie die Erinnerungen der gegenwärtigen Generation dokumentiert. Dabei kommt den Spielenden eine aktive Rolle zu: Er oder sie entscheidet, welche Aufnahmen im Buch platziert werden. Estelle kommentiert das Ganze nach Komplettierung der jeweiligen Seiten. Dabei gibt es meist kein Richtig oder Falsch, meist müssen fünf Aufnahmen der einzelnen Regionen gemacht und ausgewählt werden. Dadurch bleibt es dem Spielenden überlassen, welche Erinnerungen dokumentiert werden und folglich der Einfluss der Archivpraxis auf zukünftige Historiographie reflektiert.

Einsatzmöglichkeiten

Das Lernpotential von SEASON: A Letter to the Future liegt darin, dass Spielende selbst Teil der Lösung sind und aktiv an der Musealisierung von Vergangenem oder bald Gewesenem beteiligt werden. Er oder sie ist mit der Problematik konfrontiert, dass sich die Welt von Estelle drastisch verändern wird, ohne zu wissen, wann, wie oder wieso dies geschieht, und dass die einzige Lösung für Estelle ist, Erinnerungen zu dokumentieren. Dabei wird Spielenden vor Augen geführt, dass Erinnerungen ebenso wie die Auswahl dieser und der Fotografien subjektiv sind. Die Spielaufgabe ist, zu entscheiden, was am Ende über die Welt von Estelle erzählt werden soll.

Aus didaktischer Sicht liegt die Stärke des Spiels somit in der aktiven Involvierung, die am ehesten erfahren werden kann, wenn es selbst gespielt wird. Das ist im Lehrkontext am besten auf einem PC praktizierbar. Als Schwäche kann jedoch ausgelegt werden, dass die Erinnerungen der Bewohner*innen stets subjektiv sind und nie geklärt wird, was wirklich in den einzelnen Zeitaltern geschehen ist, da es keine Gegenüberstellungen mit anderen Erinnerungen gibt. Außerdem werden die Auswirkungen der selektiven Dokumentation lediglich angedeutet. Das hebt zwar die Importanz der Archivierung hervor, da aber im Spiel nicht von selbst darauf hingewiesen wird, dass es eine Reflexion benötigt, muss hier im Lehrumfeld ein größerer Erkläraufwand betrieben werden. Wichtig ist daher, die eigene Auswahl zu hinterfragen und zu reflektieren und mit davon abweichenden Entscheidungen anderer Spieler*innen beispielsweise anhand eines Let’s Plays zu vergleichen.


Weiterführendes Material

  • Dörr, Margret et. al. 2008. „Erinnerung – Reflexion – Geschichte. Erinnerung aus psychoanalytischer und biographietheoretischer Perspektive.“ Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Farrenkopf, Michael et al. 2022. „Alte Dinge – neue Werte. Musealisierung und Inwertsetzung von Objekten“. Göttingen: Wallstein.
  • McGonigal, Jane. 2012. „Besser als die Wirklichkeit! Warum wir von Computerspielen profitieren und wie sie die Welt verändern.“ München: Heyne.
  • Neitzel, Britta. 2012. „Involvierungsstrategien des Computerspiels.“ In Theorien des Computerspiels zur Einführung, herausgegeben von GamesCoop, 75-103. Hamburg: Junius-Verlag.
  • Widmann, Tabea. 2023. „The Game is the Memory. Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen als Erinnerungsmedien um den Holocaust“ Formen der Erinnerung Band 76, herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann. Göttingen: V&R unipress.

Zitierempfehlung

Günther, Ann-Kathrin. „SEASON: A Letter to the Future“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 14.03.2024 [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]

Förderer

Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Projekts "Let's Remember! Erinnerungskultur mit Games vor Ort" in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.