Last Train Home

In dem Echtzeit-Strategiespiel Last Train Home steuern die Spieler*innen einen Trupp tschechoslowakischer Soldat*innen, die sich nach dem Ende des 1. Weltkriegs durch die Wirren des Russischen Bürgerkriegs mithilfe eines Zuges in ihre Heimat durchschlagen müssen. Es thematisiert mit dem Fokus auf die Tschechoslowakischen Legionen und innerrussische Konflikte ein zumindest in der deutschen Erinnerungskultur bislang wenig bearbeitetes historisches Setting.

Allgemeine Infos

  • Entwickler: Ashborne Games (Deutschland )
  • Publisher: THQ Nordic
  • Erscheinungsjahr: 2023
  • Genre: Real Time Strategy, Survival
  • Thema: Erster Weltkrieg
  • Zugänglichkeit: Deutsche Sprachversion, Englische Sprachversion
  • Vermittlungspotenzial Mittel
  • Zeitaufwand Mittel
  • Komplexität Hoch
Erklärungen zur Bewertung

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Erinnerungskulturelle Einordnung

Autor: Mathias Herrmann

Mathias Herrmann studierte an der Technischen Universität Dresden Lehramt an Oberschulen für die Fächer Deutsch/Geschichte und promovierte anschließend an der Technischen Universität Chemnitz im Rahmen eines Projekts zu musealen Beständen in sächsischen Museen. Zurzeit ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte der TU Dresden tätig und widmet sich unter anderem dem Thema der Implementierung analoger und digitaler Spiele in den Geschichtsunterricht

Die Spieler*innen kontrollieren einen Trupp Soldat*innen der Tschechoslowakischen Legion, die nach Ende des Ersten Weltkriegs aufgrund des ausgebrochenen Russischen Bürgerkriegs nicht auf direktem Weg in die Heimat kommen können, sondern – in einem Zug quer durch Russland und auf der Linie der Transsibirischen Eisenbahn reisend – Wladiwostok erreichen müssen. Herzstück ist neben einer Abfolge verschiedener, teils narrativer, Missionen die Sicherung des Überlebens der Truppe sowie der Ausbau des Zuges als „mobiles Hauptquartier“ und Fortbewegungsinstrument. Dabei gilt es nicht nur, militärische Konflikte zu meistern, sondern auch Entscheidungen über den Verlauf der Reise zu treffen.

Erinnerungskulturelle Bedeutung

Die erinnerungskulturelle Relevanz ergibt sich aus der Thematik des Spiels selbst, denn es stellt zwei innerhalb der digitalen Spielelandschaft selten, bzw. noch gar nicht aufgegriffene Erzählungen in den Mittelpunkt: den Russischen Bürgerkrieg von 1917-1922 als historische Rahmenhandlung und – als Binnenhandlung – das Schicksal der Tschechoslowakischen Legion (eine Geschichte, die heute fast vergessen ist und damit gleichsam eine erinnerungskulturelle Leerstelle markiert). Dabei gleicht – die historischen Gegebenheiten verkürzend – die Reise der ehemals während des Ersten Weltkriegs in Russland stationierten und nun dort „gestrandeten“ tschechoslowakischen Soldaten einem regelrechten Kampf ums Überleben, der nur wenige Fehler seitens der Spielenden zulässt.

Auch wenn der in „Last Train Home“ dargestellte Handlungsrahmen sowie die einzelnen Charaktere fiktiver Natur sind, so orientiert sich der Plot der Erzählung an den Ereignissen der Jahre 1918 bis 1920, als eine große Anzahl tschechoslowakischer Legionsverbände – verlegt in Züge auf dem Weg Richtung Wladiwostok – in die Wirren des Bürgerkriegs geriet und in Kampfhandlungen mit der von Leo Trotzki im Januar 1918 aufgestellten Roten Armee verwickelt wurde. Das Spiel thematisiert in diesem Zusammenhang historische Ereignisse, wie beispielsweise die Inbesitznahme des Zarengoldes in Kasan, aber auch Folklore und Verschwörungsnarrative spielen eine Rolle. So treffen die Legionäre im Spiel unter anderem eine Person namens Baba Jaga, nehmen aber auch eine siebenköpfige Familie im Rahmen einer Mission mit, die starke Ähnlichkeit mit den Romanows aufweist.

Die Spieler*innen kommen dabei vor allem mit den brutalen Auswirkungen des Russischen Bürgerkriegs in Kontakt, obwohl das Schicksal der Zivilbevölkerung deutlich anonymeren Darstellungen unterliegt als das der gesteuerten Soldat*innen. Diese werden, mit eigenen biographischen Hintergründen versehen, in emotionaler Weise stärker an den/die Spieler*in gebunden. Um mehr Immersion zu erzeugen, entschloss sich das tschechische Entwickler*innenstudio Ashborne Games außerdem dazu, die Möglichkeit zu bieten, alle dargestellten Personen auch in ihren jeweiligen Muttersprachen zu Wort kommen zu lassen. Das bedeutet, dass diese – statt einer deutschen Synchronisierung – auch ein Gemisch aus Polnisch, Slowakisch, Tschechisch und Russisch sprechen können.

Um trotz fiktiver Elemente innerhalb des Spiels auch historisch authentische Darstellungen zu bieten, legten die Entwickler*innen einerseits großen Wert auf eine enge Zusammenarbeit mit dem Legiovlak-Museum (Prag), das über eine Kopie eines entsprechenden Panzerzuges verfügt und nutzten andererseits Tagebücher historisch verbürgter Legionsmitglieder sowie die Beratungstätigkeit des aktuell existierenden Verbands tschechoslowakischer Legionäre bezüglich der Darstellung von Ausrüstung und Kriegsgerät.

Um weitere historische Informationen und Kontextualisierungen erhalten zu können, implementierten die Entwickler*innen zudem ein Glossar mit kurzen Texten, die über den Verlauf des Spiels Stück für Stück freigeschaltet werden.

Diskussionspunkte

Da der Kern des Spiels vorrangig das Management des Zugs und die Versorgung der tschechoslowakischen Soldat*innen umfasst – womit gleichzeitig emotionale Ankerpunkte für die Spielenden gesetzt werden – entsteht bereits relativ früh ein recht eindeutiges Freund-Feind-Narrativ innerhalb des Spiels, das durch Darstellungen des Russischen Bürgerkriegs verstärkt wird. So trifft der von den Spieler*innen geführte Legionstrupp schon in der als Tutorial angelegten Prologmission während der Suche nach Vorräten für die Reise auf einen von Rotarmisten geplünderten und in Brand gesetzten Hof und entscheidet sich im Rahmen einer Zwischensequenz – mit dem Verweis auf ein zwingendes Neutralitätsgebot seitens der (neuen) tschechoslowakischen Führung – aber gegen Vergeltungsmaßnahmen. In Moskau angekommen, wird die Legion von der Roten Armee verraten, der erste Zug zerstört und der eigentliche Kommandant der Truppe ermordet. Nach der Flucht aus der Stadt beginnt das Spiel erst richtig – nun mit einer äußerst desolaten, neuen Ausgangssituation.

Diskussionswürdig an diesem Gut-Böse-Schema ist dabei die historische Rolle der tschechoslowakischen Legion während des Russischen Bürgerkriegs. Diese war eben keine rein neutral agierende, sondern auch eine aktiv handelnde Partei, die teilweise breite Teilstrecken der Transsibirischen Eisenbahn kontrollierte und quasi im Handstreich eine Stadt nach der anderen einnehmen konnte. In diesem Zusammenhang werden Gräuel des Bürgerkriegs auch durchaus einseitig behandelt – es ist so gut wie nie notwendig, mit den Legionären Dörfer zu plündern, um an Vorräte zu kommen. Ganz anders die russischen Milizen bzw. Rotarmisten, die vor allem durch Terror an der Zivilbevölkerung charakterisiert werden. Diese unausgewogene Thematisierung – denn der Terror ging sowohl von „Roten“ als auch „Weißen“ aus – war in Verbindung mit einer stark heroischen Darstellung der Legion auch Inhalt vereinzelter Kritik am Spiel. Zwar entsteht im weiteren Verlauf der Handlung auch ein durchaus ambivalenteres Bild bezüglich der „Weißen“ als zu Beginn der Unternehmungen, aber dennoch stellen die „Roten“ den hauptsächlichen Gegenpol dar.

Ein weiteres, durchaus schwerwiegendes Desiderat stellt die Ausblendung jeglichen jüdischen Lebens in Russland dar. Gerade innerhalb ehemals zaristischer Truppen etc. gab es starke antisemitische Tendenzen, was vom Spiel in keiner Weise angesprochen, thematisiert oder kontextualisiert wird, obwohl die großen Auswanderungsbewegungen jüdischer Menschen aus Russland im frühen 20. Jahrhundert gerade in den Pogromen der Zarenzeit begründet liegen.

Es steht zu vermuten, dass das tschechische Entwickler*innenstudio hier eben keine fundamentale Kritik an der Legion unternehmen, sondern dem Thema überhaupt wieder eine Relevanz geben wollte, wobei sie auch auf eher aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse reagierten. Das zeigt sich beispielsweise bei der Implementierung von Erzählungen über einen „Walküren-Kampftrupp“ sowie die Integration tschechoslowakischer Soldatinnen in die kämpfende Truppe, was durchaus in Zweifel gezogen werden muss.

Abschließend stellt sich die Frage, ob es sich bei „Last Train Home“ nicht auch um ein Antikriegsspiel handelt. Die Darstellung des Konflikts, die Trostlosigkeit des Settings und die teils drastischen Auswirkungen der gespielten Handlungen bieten hier genügend Stoff für Diskussionen.

Einsatzmöglichkeiten

Das Spiel bietet durchaus Potential für eine Thematisierung in Lehr-Lern-Situationen. Hierbei kann es unter anderem um die Rezeption des Russischen Bürgerkriegs, die Darstellung von Krieg und Leid in Bezug auf Soldaten UND Zivilbevölkerung und – nicht zuletzt – um die Bedeutung digitaler Spiele für den Bereich der Erinnerungskultur an sich gehen, denn immerhin wirft „Last Train Home“ mit dem Fokus auf die Tschechoslowakische Legion einen tiefgreifenden Blick auf ein ausgeblendetes und in Teilen fast vergessenes, historisches Thema.

Eine Implementierung könnte sich dennoch schwierig gestalten. Zwar gibt es eine Kapitelfunktion, die es ermöglicht, verschiedene Stationen auf dem Weg nach Wladiwostok erneut zu spielen, dennoch müssen diese erst freigeschaltet werden – das Spiel selbst hat mit weit über 40 Stunden einen enormen Umfang. Auch ist eine gute technische Ausstattung notwendig, um den Titel spielen zu können. Es kommt hinzu, dass die Mechanismen des Spiels zunächst eine gewisse Einarbeitungszeit benötigen. Die Kontrolle der Soldat*innen in den Echtzeitkämpfen ist durchaus komplex, der Einsatz bestimmter Fähigkeiten und Strategien muss erlernt werden, wenn nicht die ersten Aufträge bereits mit Totalverlusten enden sollen, die gleichzeitig das Spielende bedeuten. Das gilt auch für das Management des Zuges. Auch wenn das Spielgeschehen äußerst motivierend ist, bietet es sich dennoch an, mit Videos und Let’s Plays zu arbeiten.


Weiterführendes Material

Zitierempfehlung

Herrmann, Mathias. „Last Train Home“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 14.03.2024 [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]

Förderer

Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Projekts "Let's Remember! Erinnerungskultur mit Games vor Ort" in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.