Spielcover: Not Tonight

Not Tonight

Im dystopischen Setting von Not Tonight versuchen die Spieler*innen als staatenloser Charakter in einem nunmehr autoritär regierten Großbritannien zu überleben und mit ihrer Arbeit als Türsteher ihren Aufenthaltsstatus zu sichern. Das Spiel konfrontiert sie dabei mit Entscheidungsdilemmata und Handlungsdruck zwischen Überlebensangst und Konformität.

Allgemeine Infos

  • Entwickler: Panic Barn (Vereinigte Königreich)
  • Publisher: No More Robots
  • Erscheinungsjahr: 2018
  • Genre: Simulator
  • Thema: 21. Jahrhundert, Flucht und Migration
  • Zugänglichkeit: Deutsche Sprachversion, Englische Sprachversion
  • Vermittlungspotenzial Mittel
  • Zeitaufwand Mittel
  • Komplexität Gering
Erklärungen zur Bewertung

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Erinnerungskulturelle Einordnung

Autor: Laurentius Alvin

Geboren am 18.7.1994 in Jakarta, Indonesien. Bachelorabschluss Kunstgeschichte & Musikwissenschaft Universität Greifswald 2018. Masterabschluss Europäische und Asiatische Kunstgeschichte Universität Bonn 2021.

In Not Tonight übernehmen die Spielenden die Rolle von „Person von europäischer Herkunft #112“, eine*r von Tausenden staatenlos gewordenen Bewohner*innen Englands nach der Machtübernahme der fiktiven rechtsextremen Partei „Albion First“ im Jahr 2018. Die autoritäre Regierung benennt das Land in Albion um und erlässt eine Gesetzesänderung, nach der die englische Staatsbürgerschaft nur noch über Groß- und Elternteile erlangt werden kann. Viele Bürger*innen werden so staatenlos und ins Exil getrieben. Die Hauptaufgabe der Spielenden besteht darin, das Aufenthaltsrecht ihres Charakters zu gewährleisten, indem sie ihren vom Staat angeordneten Beruf ausführen. Als Türsteher*in verschiedener Bars und Veranstaltungsorte haben die Spielenden die Aufgabe, zu kontrollieren, wer hinein darf und wer nicht. Zu beachten und kontrollieren sind dabei verschiedene Einlassregeln: Kleiderordnung, Staatsangehörigkeit, Alter, die Gültigkeit der Eintrittskarte usw. Gleichzeitig muss der gesundheitliche Zustand der Spielfigur überwacht und gegen die vom Staat überwachten Pflichten sowie einen positiven „sozialen Kredit“ und die Bezahlung der Miete abgewogen werden. Daneben kommen die Spielenden in Kontakt mit anderen nicht spielbaren Charakteren beispielsweise mit dem Polizisten und Sachbearbeiter des Spielers Jupp, dessen Vertrauen man gewinnen kann, sowie mit der Irin Shannon, der wegen sich stetig ändernder Regeln immer wieder der Eintritt verwehrt wird.

Erinnerungskulturelle Bedeutung

Not Tonight gehört zu einem der wenigen Spiele, die die jüngsten historischen Ereignisse satirisch überspitzt bearbeiten. Im Spiel werden verschiedene zum Erscheinungsjahr aktuelle Themen aus verschiedenen Ländern, insbesondere dem Vereinigtem Königreich, aufgegriffen.

Im Jahr 2021 ist mit Not Tonight 2 ein Nachfolger des Spiels erschienen, der sich trotz ähnlicher Prämisse sowohl spielmechanisch als auch thematisch (eine dystopische USA statt Großbritannien) von Not Tonight abhebt. Beide Spiele der Reihe sind deutlich durch das Spiel Papers, Please inspiriert, in dem das Überprüfen von Dokumenten als zentrales Spielelement im Vordergrund steht und die Grenzpolitik eines autoritären Regimes verhandelt wird. Der spielmechanische Druck in Not Tonight, genug zu verdienen, um den eigenen Pflichten als geduldete Person nachzukommen, ist ebenso klar an Papers, Please angelehnt. Unterschiede liegen vor allem im historischen Setting: Während Papers, Please den kalten Krieg aufgreift, fokussiert sich Not Tonight auf internationale Politik in den Jahren unmittelbar vor der Veröffentlichung, insbesondere den sogenannten Brexit. Obwohl Not Tonight in England spielt, werden auch internationale migrationspolitische Themen verhandelt. Neben den Bezügen zum Brexit (z. B. beklagen Arbeitgeber im Spiel das Wegfallen günstiger Arbeitskräfte aus der EU), erinnert etwa der Bau einer Mauer an der Themse an die Grenzpolitik der USA unter Präsident Trump und das Sozialkreditsystem von Albion ist von dem in China implementierten „Social Credit“-System inspiriert.

Diskussionspunkte

„Thus from a Mixture of all Kinds began, that Het’rogenous Thing, An Englishman.“ Das im Jahr 1703 von Daniel Dafoe geschriebene Gedicht passt gut zum Beginn von Not Tonight, denn schon bei der minimalistischen Charaktererstellung wird die Heterogenität der englischen Gesellschaft mit der satirisch-dystopischen Version des Brexits konterkariert. Von Anfang an wird verdeutlicht, dass ein Eltern- bzw. Großelternteil der Spieler*in kein Engländer ist und damit der Verlust der Staatsbürgerschaft einhergeht. Im Laufe des Spiels erleben die Spieler*innen, wie dieses fiktive England sich weiter radikalisiert und sind zunehmend direkt und indirekt von der autoritären Politik der Regierung betroffen.

Auf der einen Seite ermöglicht Not Tonight so eine breite, allgemeinere Diskussion über migrations- und gesellschaftspolitische Themen der vergangenen Jahren. Auf der anderen Seite werden diese Themen jedoch eher oberflächlich und unterkomplex dargestellt. Eine vertiefte Auseinandersetzung wird so erschwert. Die Gesetzesänderungen zur Nationalität durch Albion First werden viel zu kurz geschildert und im Laufe des Spiels begegnen den Spielenden nur wenige Staatenlosen, die ihre Situation schildern können. Diese Oberflächlichkeit betrifft auch die Spielfigur selbst, die zwar eine eigene Kurzbiografie und ein individuelles Aussehen hat, dadurch aber kein Einfluss auf den Spielverlauf genommen wird.

Einsatzmöglichkeiten

Not Tonight zeigt viele spielmechanische Ähnlichkeiten zu Papers, Please und lässt sich relativ leicht erlernen. Der satirische Ton dieses Spiels verdeckt ihre reale, dennoch vielfältige Inspiration nur leicht. Als Lehrmaterial kann sowohl ein Let’s Play angesehen als auch das Spiel direkt gespielt werden, da Not Tonight nicht sehr umfangreich ist, in kurzen Einheiten gespielt werden kann und die wichtigsten Hintergrundinformationen zumeist über Zwischensequenzen vermittelt werden. Das Spiel stellt keine besonderen Anforderungen an die Hardware und sollte selbst auf älteren Computern gut laufen.

Die oberflächliche Erwähnung weltweiter politischer Entwicklungen ist zwar nicht nur spezifisch auf den Brexit anwendbar, illustriert neben dem Autoritarismus des 21. Jahrhunderts jedoch auch insbesondere die realen Tendenzen der Radikalisierung in der englischen Gesellschaft. So lassen sich Teile des Spiels in Bezug zu Umberto Ecos Aufsätzen zum Faschismus oder einem Text von Herschinger et al. zu Radikalisierung setzen und diskutieren. Ebenso bietet es sich an, Not Tonight als Satire mit anderen satirischen Zugängen zum Thema aus historischen oder zeitgenössischen Medien wie etwa Sinclair Lewis Buch It Can’t Happen Here zu vergleichen sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Charakterisierung einer autoritären Gesellschaft herauszuarbeiten.


Weiterführendes Material

  • Amst, Anna. Euroskeptizismus in Großbritannien. Die Briten als Bremser der europäischen Integration? GRIN Verlag, 2015
  • Anderson, Benedict. Imagined communities: Reflections on the origin and spread of nationalism. London: Verso, 2006
  • Eco, Umberto. Der ewige Faschismus. Übersetzt aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Vorwort von Roberto Saviano. München: Carl Hanser Verlag, 2020
  • Herschinger, Eva, Kemal Bozay, Magdalena von Drachenfels, Oliver Decker, and Christian Joppke. A Threat to Open Societies? Conceptualizing the Radicalization of Society. International Journal of Conflict and Violence (IJCV) , March 3, 2021. (zuletzt aufgerufen am 17.05.2022)
  • Hrbek, E.. Euroskeptizismus. Bundeszentrale Politische Bildung.  (zuletzt aufgerufen am 17.05.2022)
  • Kezius, Inka. ‚Kritik ohne Zeigefinger‘ – eine qualitative Studie zu politischer Satire in Fernsehmagazinen. GRIN Verlag, 2008

Zitierempfehlung

Alvin, Laurentius. „Not Tonight“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 31.05.2022. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]

Förderer

Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Migration Lab Germany aus Mitteln der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus und der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gefördert.