Bury Me, My Love

Bury Me, My Love

Über einen simulierten Textchat begleiten die Spielenden in Bury Me, My Love die Konversationen zwischen Nour, einer Syrerin, die sich auf die gefährliche Flucht nach Europa begibt, und Majd, ihrem Ehemann, der zurück in Syrien bleibt. Das Spiel fokussiert dabei Unsicherheit, Angst und Bedrohung, der sich beide Charaktere ausgesetzt sehen.

Allgemeine Infos

  • Entwickler: ARTE France / Figs / The Pixel Hunt (Frankreich)
  • Publisher: Plug In Digital
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Genre: Adventure
  • Thema: 21. Jahrhundert, Flucht und Migration
  • Zugänglichkeit: Deutsche Sprachversion, Englische Sprachversion
  • Vermittlungspotenzial Hoch
  • Zeitaufwand Gering
  • Komplexität Gering
Erklärungen zur Bewertung

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Erinnerungskulturelle Einordnung

Autor: Nico Nolden

Dr. Nico Nolden forscht und lehrt in Public History zur Geschichte von und in digitalen Spielen, zu ihrer Rolle für die Erinnerungskultur und ihrem Nutzen für die Bildung.

Bomben kaum überschaubarer Parteien ebneten das syrische Homs ein. Menschen wie Nour und ihr Mann Majd versuchten in der alltäglichen Gewalt zu überleben. Ihre fiktiven Charaktere basieren auf Erfahrungen zum Bürgerkrieg aus Interviews, ursprünglich inspiriert von einer interaktiven Reportage der französischen Zeitung Le Monde. Als Tod und Leid Überhand nehmen, verlässt Nour Syrien. Majd aber bleibt zurück, denn nach dem Verlust seines Vaters umsorgt er Mutter und Großvater. So geht sie allein auf die gefährliche Flucht nach Europa. Smartphones bleiben ihre letzte Verbindung. In Bury Me, My Love interagieren die Spielenden wie in einem Textchat von WhatsApp mit ihr, manchmal tauschen sie Bilder und Karten. In der Rolle von Majd helfen sie Nour bei schwierigen Entscheidungen, etwa um Ausrüstung und Geld zu organisieren. Die Auswahl seiner Antworten beeinflusst die Beziehung zwischen beiden und so Nours Durchhaltewillen. Die Reise endet auf neunzehn mögliche Weisen nicht immer glücklich.

Erinnerungskulturelle Bedeutung

Die simulierte Chat-Oberfläche des Textabenteuers transportiert, wie essentiell für die Fliehenden der Rückhalt auf der Reise über Smartphones durch Freunde und Verwandte ist. Die Inszenierung lässt Menschen Einblicke in die Erfahrungen erlangen, welche Flüchtende auf ihren Weg zwangen und die sie überwinden mussten.

Digitale Spiele machen vielseitig die desolate Situation erfahrbar, wenn Menschen vor Unterdrückung, Krieg, Gewalt und Verfolgung fliehen. Bury Me, My Love betont mit seiner Spielmechanik die unersetzliche Rolle eines Smartphones für Navigation und Information auf der Flucht und als letztes Kontaktmittel zu den Lieben. Gegenüber diesem fiktiven Szenario verarbeitete der Syrer Abdullah Karam mit dem kostenlosen Path Out seine eigene Fluchterfahrung als Spiel. Dafür nutzte sein Team den RPGMaker. Die Ausgangslage in einem aktiven Kampfgebiet inszeniert das Survival-Strategiespiel This War of Mine anhand einer Gruppe von Überlebenden. Einen anderen bedeutenden Fluchtkorridor durch die Sahara über die afrikanischen Exklaven Spaniens nach Nordeuropa behandelt das Kunst-Kollektiv gold extra in Frontiers, das die Grafik-Engine von Half-Life 2 zu einem Multiplayer-Spiel modifiziert. Das Action-Abenteuer Road 96 ändert prozedural bei jedem Spieldurchlauf die Flucht einer Jugendlichen aus einem fiktiven Unterdrückungsregime.

Diskussionspunkte

Menschen in Mitteleuropa können kaum die Erfahrungen überblicken, die Flüchtende auf ihren Weg zwangen. Sie verdrängen, wie allgegenwärtig Krieg und Flucht sind – von den neunziger Jahren in Jugoslawien, über Afghanistan, bis jüngst zur Ukraine. Gründe für den Aufbruch und die Fluchtwege arbeitet Bury Me, My Love aus Einzelschicksalen vielseitig auf. Die Flucht können Spielende so auf unterschiedliche Pfade lenken. Aus mehreren Quellen kondensiert, büßt die Spielerfahrung an Glaubwürdigkeit gegenüber einer konkreten Flucht ein. Arte bürgt für eine authentische Spielerfahrung daher mit der Geflüchteten und Zeugin Dash bzw. Dana sowie der Le Monde-Journalistin Lucie Soullier als zentrale Mitglieder der Redaktion.

Letztlich unterläuft das Spieldesign die kluge performative Grundidee des Textchats. Die mobilen Varianten simulieren zwar Wartezeiten eines Chats und senden die nächste Benachrichtigung manchmal erst nach Stunden. Die Echtzeit macht das zermürbende Warten von Majd erfahrbar. Spielende auf dem PC aber verfolgen häufig nur automatisch ablaufende Textfragmente. Eine Karte verortet zwar das Geschehen, aktiv recherchieren Spielende damit aber nie etwa günstige Laufwege oder Grenzschließungen. Majd schreibt, er nutze Foren und Nachrichtenseiten, sucht Nour sogar eine Übersetzung. Leider können Spielende solche Funktionen nicht aktiv übernehmen.

Einsatzmöglichkeiten

Weil Bury Me, My Love diverse Verläufe ermöglicht, regen die Schicksale als zeithistorische Dokumente an zu überdenken, wie sich Europa gegenüber Flüchtenden verhalten sollte. Im Unterrichtseinsatz und der historisch-politischen Erwachsenenbildung könnten kleine Gruppen ihre Spielverläufe protokollieren, um Entscheidungen und resultierende Reisewege zu vergleichen. Das Spiel vereint Erfahrungen auf dem Reiseweg mit denen Berichten durch Begleiter:innen. So entstehen mehr Gesprächsanlässe, von denen viele für Menschen auch innerhalb Mitteleuropas anschlussfähig sind. Erfahrungen von Krieg, Flucht und Vertreibung sind in vielen Familien verborgen.

Kritiker verschreien die Smartphones der Geflüchteten als Luxusgeräte. Diese Haltung offenbart eine verbreitete Wahrnehmung, die sich auf deren Ankunft im Zielland konzentriert. Deshalb sind die Beobachtungen zu lebenswichtigen Funktionen der Smartphones zeithistorisch und mediendidaktisch bedeutsam. Aus den Diskrepanzen des Spieles zur Funktionalität echter Smartphones erwachsen Lernanlässe, sowie aus dem direkten Vergleich der Desktop- und der mobilen Varianten. Die eigenen Smartphones lassen sich so auf Handlungspotentiale für eigene Extremsituationen untersuchen. Sie können in Vorschlägen für Verbesserungen oder Erweiterungen des Spiels münden.


Weiterführendes Material

Arte France 2019. „Begrabe mich, mein Schatz. Der Prolog.“ Offizielle Webseite, 2019. https://begrabemichmeinschatz.arte.tv/prolog, zuletzt aufgerufen am 26.5.2022.

Fischer, Martin. 2021. „Bury me, my love.“ Digitale Spiele mit Pädagogischem Potential. Stiftung Digitale Spielekultur. https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/paedagogisches-spiel/bury-me-my-love/, zuletzt aufgerufen am 26.5.2022.

Zitierempfehlung

Nolden, Nico. „Bury Me, My Love“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 31.5.2022. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]

Förderer

Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Migration Lab Germany aus Mitteln der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus und der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gefördert.