Spielecover: Disco Elysium – The Final Cut

Disco Elysium – The Final Cut

Disco Elysium versetzt Spieler*innen in die Rolle eines abgehalfterten Detektivs, um in der fiktiven Stadt Revachol einen Mordfall zu lösen. Dabei entspinnt sich ein an klassische Noir-Geschichten angelehnter Kriminalfall, in dessen Verlauf der Protagonist nicht nur die vielfältigen Existenzen und Bewohner des post-revolutionären Settings kennenlernt, sondern sich auch mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen wird.

Allgemeine Infos

  • Entwickler: ZA/UM (Estland / Vereinigtes Königreich)
  • Publisher: ZA/UM
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Genre: Role-Playing (RPG)
  • Thema: Antisemitismus, Flucht und Migration, Politische Radikalisierung, Wirtschaft
  • Zugänglichkeit: Deutsche Sprachversion, Englische Sprachversion
  • Vermittlungspotenzial Mittel
  • Zeitaufwand Hoch
  • Komplexität Mittel
Erklärungen zur Bewertung

Trailer

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Erinnerungskulturelle Einordnung

Autor: Markus Bassermann

Markus Bassermann hat Soziologie und Geschichte in Hamburg und Oslo studiert. Im Themenkomplex der digitalen Geschichts- und Erinnerungskultur setzt er sich insbesondere mit den Schnittstellen zwischen Entwicklung und Anforderungen auseinander.

Disco Elysium versetzt Spielende in die Rolle eines abgehalfterten Detektivs, um in der fiktiven Stadt Revachol einen Mordfall zu lösen. Spielcharakter und Setting sind dabei jeweils auf ihre Art von der Vergangenheit gezeichnet: Der Protagonist ist eine tragikomische Figur mit Alkoholproblemen und Amnesie, Revachol durchsetzt von den Spuren einer oft gewaltträchtigen Geschichte. In dieser Welt entspinnt sich der an klassische Noir-Geschichten angelehnte Kriminalfall, in dessen Verlauf der Protagonist nicht nur die vielfältigen Existenzen und Bewohner des post-revolutionären Settings kennenlernt, sondern sich auch mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen wird. Wie im Genre üblich erkunden Spielende die Spielwelt und interagieren mit deren Charakteren. Durch eine Vielzahl an Fähigkeiten, von „Empathie“ bis „Savoir Faire“, entwickelt der Protagonist sich dabei dem Spielenden gemäß weiter. Einzigartig ist das „Gedankenkabinett“, in dem der Detektiv moralische und ideologische Positionen sammelt und reflektiert.

Video-Kurzreview

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Erinnerungskulturelle Bedeutung

Disco Elysium knüpft in seinem Setting an diverse politisch-historische Topoi an, ohne sich vollständig auf einen davon zu stützen. Dadurch erzeugt es seinen ganz eigenen, einzigartigen Erinnerungsraum. So erinnern Elemente des Settings an die Pariser Kommune, das Ende des Real-Sozialismus der 1990er-oder das Berlin der Weimarer Republik. Der Fokus liegt dabei auf den Menschen Revachols, die ihre Lage reflektieren und sich in dieser orientieren: Ihre Stimmungen reichen von Resignation über vage Hoffnung zu nostalgischer Verklärung und trotzigem Widerstand. Keine politische Ideologie überwiegt, stattdessen bieten Faschismus, Moralismus, Kommunismus und Liberalismus unterschiedliche Deutungsmuster der Situation. Die Stadt ist eine Keimzelle des Neuanfangs, ohne dass irgendwie klar ist, wie dieser aussehen wird. Vergangenheit, Zukunft und die Verbindung durch Erinnerung und Ideologie sind die Kernthemen von Disco Elysium.

Darüber hinaus ist das Spiel auch eine ganz unmittelbare Auseinandersetzung mit der (Re-)Konstruktion von persönlicher Erinnerung und der daraus erwachsenden Identität: Vermittels des Amnesie-geschlagenen Hauptcharakters begegnen Spielende der Stadt gewissermaßen als Tabula Rasa und es liegt an ihnen, welche Ideologien und Überzeugungen der Detektiv (buchstäblich) internalisiert und welche er zurückweist. Auf dieser persönlichen Ebene zeichnet Disco Elysium somit eine Verbindung zwischen Erinnern und Menschwerdung.

Spielgeschichtlich sticht das Spiel durch Reife und Tiefgang hervor. Dass es häufig mit dem Klassiker Planescape Torment (1999) verglichen wird, liegt nicht nur an der Ähnlichkeit zum narrativen Rollenspiel, sondern gerade darin, dass in beiden Fällen das Medium zur gekonnten Auseinandersetzung mit politischen und philosophischen Fragen genutzt wurde. Zahlreiche Artikel und Video-Essays über das Spiel, die den Rahmen einer Rezension verlassen und in die Analyse übergehen, bezeugen das Potenzial für die tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Spiel.

Diskussionspunkte

Disco Elysium ist bemerkenswert, insofern es weder einen moralischen Zeigefinger hebt, noch Figuren durch ironische Distanz ins Lächerliche zieht. Die vertretenen politischen Einstellungen werden für sich ernst genommen, in ihren immanenten Logiken und Widersprüchen gewürdigt und ausgebreitet. So kann der Detektiv auch rassistisch-wahnhafte Deutungsmuster internalisieren, die dann aber (naturgemäß) ins Absurde abdriften. Ähnlich wie beispielsweise in Suzerain (2020) traut das Spiel seinen Spielenden zu, selbstständig die aufgeworfenen Fragen zu reflektieren und stellt diesen keine Einsortierung vorweg. Deswegen ist es aber nicht notwendig neutral oder indifferent: So wurde und wird beispielsweise diskutiert, ob das Spiel der kommunistischen Überzeugung sympathischer gegenüber steht, die vorrangig als eine Auseinandersetzung mit der Idee des Kommunismus unter dem Schatten seiner realsozialistischen Verwirklichung und deren Ende gedeutet wird. Die Auseinandersetzung mit Disco Elysium rückt aus diesem Grund auch die Autor:innen in den Vordergrund: Das Studio ZA/UM versteht sich als Kunst-Kollektiv, das Spiel ist entsprechend als eine künstlerische Annäherung an seine diversen Topoi aufzufassen. Darüber hinaus führten öffentlich geäußerte politische Positionen der Entwickelnden zu Kontroversen innerhalb der Industrie. Gerade im Anbetracht der Diskurse um den (vermeintlich) apolitischen Charakter von digitalen Spielen gewinnt die offensiv politische Haltung Disco Elysiums daher besondere Relevanz.

Einsatzmöglichkeiten

Ein Einsatz von Disco Elysium gestaltet sich nicht leicht, da es als eine durchgängige narrative Erfahrung angelegt ist. Denkbar ist, dem Spiel einzelne Fragmente, etwa Texte aus dem Gedankenkabinett oder Dialoge mit ihren verschiedenen Verläufen, zu entnehmen und als Grundlage für eine Auseinandersetzung mit Themen wie Rassismus, Antisemitismus oder politischer Ideologie zu verwenden. Dies erfordert aber unter Umständen ein erhebliches Maß an Kontextualisierung, zudem zerfällt die narrative Kohärenz. Darüber hinaus fehlt in diesem Fall die narrative und spielerische Bindung der Spielenden an die Situation, aus der ein story-lastiges Rollenspiel seine Wirkung bezieht. Aus demselben Grund ist auch ein Let’s Play nur bedingt geeignet, da damit das entscheidende Mittel des spielerischen Einflusses aufgegeben wird. Streng genommen ist die Anwendung nur mit dem Gesamtwerk sinnvoll. Das gesamte Spiel ist in und für sich eine Auseinandersetzung der Autor:innen mit ihrer Sicht auf den post-sozialistischen Erinnerungsraum und wäre als solches zu interpretieren und analysieren. Sehr gut denkbar, wenn auch entsprechend voraussetzungsreich, wäre eine Beschäftigung über einen längeren Zeitraum, die Disco Elysium als interaktives Kunstwerk würdigt, in deren Verlauf Spielende den abweichenden Verlauf ihrer Erfahrungen diskutieren und philosophische sowie politische Wirkungen analysieren. Hierzu könnten dann auch gut analytische Artikel und Video-Essays über das Spiel herangezogen werden, um die allgemeine Auseinandersetzung mit dem Spiel zu würdigen.

An die Hardware stellt das Spiel keine größeren Anforderungen. Durch die stellenweise bewusst verspielte, slanghafte und kryptische Sprache ist das Englisch des Spiels eher voraussetzungsreich, wobei die (ausschließlich Englische) Vertonung die Leselast erheblich reduziert. Die deutsche Übersetzung ist durchweg gelungen, kann aber naturgemäß nicht alle Feinheiten des Originals wiedergeben.


Weiterführendes Material

Zitierempfehlung

Bassermann, Markus. „Disco Elysium – The Final Cut“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 15.12.2021. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]

Förderer

Dieser Beitrag wurde aus Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus gefördert.