Papers, Please
Als Grenzbeamt*in des fiktiven, totalitären Staats Arstotzka werden die Spieler*innen in Papers, Please mit ethischen Handlungsdilemmata zwischen Grenzschutz, den (Flucht-)Biographien derjenigen, die einreisen möchten, sowie der Sicherung des eigenen Überlebens und des Überlebens der Familie konfrontiert.
Trailer
Erinnerungskulturelle Einordnung
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Eine ungewöhnliche Perspektive eröffnet sich Spieler*innen von Papers, Please: Durch das Fenster eines Grenzposten-Häuschens am Rande eines fiktiven, totalitären Staat Arstotzka mustert man Einreisende, die aus der Warteschlange vortreten. Man kontrolliert Papiere, gleicht Fotos ab, trifft Sicherheitsvorkehrungen, prägt den richtigen Pässen die entsprechenden Stempel auf und händigt die verarbeiteten Dokumente wieder ihren Besitzern aus.
Am Ende der Schicht steht ein umso höherer Geldbetrag, je mehr Personen korrekt abgefertigt wurden und je weniger Fehler passiert sind. So verbessert man durch kontinuierliche Optimierung der Abläufe im Laufe des Spiel auch das Salär. Individuelle Geschichten einzelner Migranten und die Zeitungsberichterstattung in Zwischensequenzen unterbrechen immer wieder den Trott, wodurch das Spiel ethische Brisanz gewinnt. Zudem wird das Einkommen mit den monatlichen Lebenskosten einer fünfköpfigen Familie gegengerechnet, die bei zu wenig Spielerfolg fatale Konsequenzen erleiden muss. Die vornehmlich eindeutigen bürokratischen Prozesse, werden als Reihe von Entscheidungen auf papierner Grundlage erkenntlich. Geschultes Sehen und effiziente Handhabe rigoroser Verwaltung erwirken eines von 20 möglichen Enden der Geschichte eines Grenzwächters.
Video-Kurzreview
Erinnerungskulturelle Bedeutung
Papers, Please ist heute ein mit Auszeichnungen hochdekoriertes Paradebeispiel für das jüngst entstandene Genre Independent Games. Im Gegensatz zu den Hochglanz-Produktionen großer Studios kann man hier von einem Autor sprechen: Lukas Pope, der das Spiel selbst programmierte und vermarktete, musste ohne große Ressourcen mit originellem Spielprinzip punkten, welches wiederum darauf angewiesen ist, gut mit notwendigerweise einfachen, grafischen Mitteln zu harmonieren.
Das utopische Thema erschwert die Zuordnung zu einer gängigen, (national-)geschichtlichen Erinnerung. Sehr wohl mutet das Setting zentralasiatisch an und verweist damit auf die UdSSR, doch vielmehr noch in formaler Erscheinung, in der pixeligen Graphik, wird die Frühzeit der Computerspiele reflektiert. In den frühen 80er-Jahren, dem ausklingenden kurzen 20. Jahrhundert, als der weltumspannende Ost-West-Konflikt noch nicht entschieden war, gewannen Computerspiele Relevanz als jugendkulturelles Phänomen und Bildschirme erlaubten Einblick in alternative Welten, die durch limitierte Rechenleistung selbst noch eine eigenständige, wiedererkennbare Ästhetik hatten. Es wird – vermeintlich nostalgisch – einer Vergangenheit erinnert, deren Geschichte noch nicht zu Ende und ihre Utopien deutlich unterschieden waren. Im Gegensatz dazu ist dieser Tage die Vorstellung lebendig, meist auf hochpotente, virtuelle Umgebungen blickend, dass es alles digital zu integrieren gelte – auch kulturelle Archive – und so sich Geschichte als gegenwärtig simulieren ließe.
Diskussionspunkte
Offensichtlich ist es kein naives Spiel, das man leicht der romantisierenden Verklärung der Vergangenheit überführen könnte oder gar der Fortschreibung der Diskriminierung von Minoritäten, wenngleich nichts anderes geschieht als systematische Diskriminierung: Anhand der Personalia wird unterschieden, wer rein darf, wer draußen bleiben muss.
Die Arbeit geschieht im Akkord, wodurch sich ein gamifizierter Verwaltungsapparat als Oxymoron neoliberaler Ideologie offenbart: Eine kleine Fehlerquote lohnt sich individuell zu Gunsten einer höheren Abfertigungsrate – ungeachtet der Gesetzeskonformität.
Das Spiel repräsentiert Bürokratie – eine eigentlich vertraute Ansicht, denkt man an all die Ordner, in welchen Dateien am Desktop sortiert werden. Wie Claus Pias in seiner Medienarchäologie der Computerspiele feststellt, sind graphische User Interfaces unheimliche Doppelgänger der Actionspiele, die unsere Leistung nicht kurzfristig auf Highscores abfragen, sondern hinsichtlich eines andauernden Arbeitstages optimieren und Müdigkeitserscheinungen einkalkulieren. Diese zwei Anforderungen überlagern sich in der zu kleinen Grenzwächter-Kabine, wie die zahlreichen Papiere, die man auf der winzigen Schreibfläche hin und her schiebt. So wie hier Dokumente in anschaulicher Form in ein veraltetes, schlecht auflösendes Interface portiert werden, werden die ergonomischen Kriterien gelungener Mensch-Maschine-Kommunikation einem Belastungstest unterzogen.
Einsatzmöglichkeiten
Gängige Rechner sollten das Spiel leicht bewältigen und schon im knappen Anspielen einiger Sequenzen werden die Grundmotive klar. Das dystopische Setting konfrontiert mit bedrückenden, moralischen Dilemmata. Doch steht kein Wissen bereit, das einfach abgeholt werden könne. Das zügigen Abwickeln von Verwaltungsaufgaben wird durch Einzelschicksale immer wieder ausgebremst, was kritische Reflexion anregt und wertvolle Ausgangspunkte bietet, um individuelle Spielerfahrungen pädagogisch zu kontextualisieren. Nicht zuletzt erschließen sich die historischen Grundlagen dieser fiktiven Welt nicht von selbst.
Zugleich konfligieren staatliches Interesse und subjektives Urteil in dem kleinen Grenzpostenhäuschen sehr anschaulich und werfen so vielleicht ein unmittelbareres Licht auf die jetzigen Grenzregime der EU, am Rande unserer tagespolitischen Aufmerksamkeit. Insbesondere für jene Generation, für welche die inneneuropäische Reisefreiheit durch das Schengen-Abkommen selbstverständlich geworden ist, wird die Problemlage eindrücklich vergegenwärtigt und gibt Gelegenheit für eine Sensibilisierung – auch für die überall zum Einsatz kommenden Technologien der Biometrik, automatischer Gesichtserkennung und Datenabgleich.
Weiterführendes Material
- Juul, Jesper. Handmade Pixels. Independent Video Games and the Quest for Authenticity. Cambridge, MA: The MIT Press, 2019.
- Koubek, Jochen. „Die Kulturvergessenheit der Computerspiele“. Rabbit Eye. Zeitschrift für Filmforschung, Nr. 11 (2019): 28–43.
- Pias, Claus. Computer Spiel Welten. 2. Aufl. Zürich: Diaphanes, 2010.
Zitierempfehlung
Huber, Simon. „Papers, please“. Datenbank Games in der Erinnungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 24.6.2021 [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]
Förderer
Dieser Beitrag wurde finanziert durch Fördermittel der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ). Die Video-Kurzreview dieses Beitrags wurde im Rahmen des Migration Lab Germany aus Mitteln der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus und der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gefördert.