My Memory of Us
In My Memory of Us begleiten die Spieler*innen einen Jungen und ein Mädchen, die mithilfe ihrer Freundschaft die Schrecken und scheinbar arbiträrer Marginalisierungsprozesse durch eine Roboterarmee zu überleben versuchen. Das fantastische Spielsetting weist eindeutige Bezüge zur Besetzung Polens und die Verfolgung der dortigen jüdischen Bevölkerung durch das NS-Regime auf.
Trailer
Erinnerungskulturelle Einordnung
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Neugierig befragt ein Mädchen den alten Besitzer eines Geschäfts über die Geschichte seiner Freundschaft mit einem vergleichbar alten Mädchen in seiner Kindheit. Die Freunde lernten sich kurz vor der Besetzung Polens durch die Wehrmacht kennen. In dem Rätsel-Abenteuer begleiten Spielende die Kinder durch die Bedrohungen in Krieg und Bombardement, Besetzung, Deportation und Holocaust sowie den Widerstand. Die Atmosphäre lebt von der überragenden, englischen Erzählung durch Schauspieler Patrick Stewart, der die Zwischensequenzen in Cartoon-Optik begleitet und Ereignisse in den Levels kommentiert. Die deutschen Besatzer verfremdet das Spiel zur mechanischen Armee eines gierigen Roboterkönigs. Deutsche Untertitel lassen sich hinzuschalten. In den Leveln steuern die Spielenden beide kindliche Figuren in Seitenansicht. Spielerisch meist schlicht, lösen sie Suchaufträge, Kombinations- und Schalterrätsel. Dabei unterstützen sich die Kinder gegenseitig mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Selten stresst ein anspruchsvoller Zeitdruck bei Flucht- oder Tastendruck-Sequenzen.
Video-Kurzreview
Erinnerungskulturelle Bedeutung
Das Erstlingswerk von Juggler Games folgt einem jüngeren osteuropäischen Trend. Innovativ verarbeiten Entwickler*innen das Trauma des Zweiten Weltkriegs, der Besetzung durch die Wehrmacht und den Holocaust. Ihre kleinen bis mittleren Projekte fallen durch einfallsreiche Impulse bei Perspektiven und Spielmechaniken auf (siehe Partisans 1941, Warsaw, Attentat 1942).
Besonderes leistet das Rätsel-Abenteuer, weil es diese verstörenden Themen am Beispiel Polens für jüngere Teenager nachvollziehen lässt. Viel zu wenige Angebote bereiten dieser Altersgruppe die Verbrechen der Zeit auf. Die meist schlichte Spielmechanik, das stressarme Spieltempo und die verfremdete Erzählperspektive durch die Roboter-Besatzer schaffen genügend Reflexionsraum, um psychisch nicht zu überfordern. Belastende Themen portioniert es so altersgerecht. Die kollaborative Spielmechanik zwischen dem Mädchen und dem Jungen untermauert eine erinnerungskulturell wichtige Lektionen: Es lohnt, dass man handelt, auch wenn man gegen die historische Gesamtlage ohnmächtig ist. Hilft man anderen, hilft man auch sich selbst. Zudem lassen sich in den Leveln oft Objekte finden, die Biografien polnischer Widerstandskämpfer*innen freischalten. Zwar etwas versteckt im Hauptmenü, dienen sie als Denkmäler normaler Bürger*innen und zeigen in ihnen tatkräftige Vorbilder auf.
Diskussionspunkte
Vielen Versuche digitaler Spiele, NS-Herrschaft und Holocaust darzustellen, schlug scharfe Empörung entgegen. Kritik wurde meist moralisch begründet, argumentierte jedoch kaum gegen Erzählung, Inszenierung oder Spielmechanik. Das Rätsel-Abenteuer indes löste keine kritischen Diskussionen aus, obwohl seine Darstellung von Besatzung, polnischem Widerstand und Holocaust gerade auf jüngere Menschen zielt.
Dabei gäbe es durchaus Kritisches anzumerken. Die mechanisierten Feinde mögen verständliche Darstellungsmittel für die Zielgruppe sein. Sie verschleiern jedoch, dass menschliche Wesen die Gräueltaten für eine menschenverachtende Ideologie verübten. Außerdem entstand das Spiel in einem erinnerungskulturellen Klima Polens, in dem die populistische Regierung bewusst polnisch-nationales Heldentum betont, um das Gedenken an Verlust, Tod und Opfer zum Beispiel jüdischer Menschen zu überschreiben. Das Spiel selbst zeigt, wie sich eine solche Einseitigkeit überwinden lässt. Es thematisiert eindringlich Antisemitismus, als die Besatzer vermeintlich Andersartigen die Kleidung rot färben. In der Folge begegnen auch Vertreter*innen der polnischen Bevölkerung den Gekennzeichneten mit Häme und Hass. Das Rätsel-Abenteuer fängt also trotz der Heldensicht auf die Protagonisten die Komplexität des historischen Prozesses differenziert ein.
Einsatzmöglichkeiten
Wenig Angebote thematisieren den deutschen Vernichtungskrieg, die Besatzung in Osteuropa und den Holocaust kindgerecht. Bemerkenswert gelingt dem Rätsel-Abenteuer, die Gräuel und Handlungsoptionen für Kinder ab 6 Jahren aufzubereiten und genügend Distanz zu verschaffen. Was die Roboter-Invasion historisch bedeutet, müssen Lehrende sicherlich einführen, worin sich je nach Leistungsniveau die Biografien einbinden ließen. Im Hauptmenü separiert, koppeln sie sich jedoch von der eigentlichen Spielebene ab. Spielenden entgehen die biografischen Bezüge zudem, wenn sie die Verstecke der zugehörigen Objekte nicht finden. Zwar überragend vertont, beschränkt die englische Sprachausgabe den Einsatz in der Primarstufe. Die deutschen Untertitel transportieren nicht die emotionale Kraft und erfordern zügiges Leseverständnis. Das spielmechanisch einfache Spiel eignet sich so ab der Sekundarstufe für 10 bis 14-jährige, die englisch vorgebildet sind. Das niedrigpreisige Spiel ließe sich wie Klassen-Lektüre beschaffen. Einmal freigespielt, starten die Kapitel auch einzeln. Im Unterricht könnten Schüler*innen so verschiedene Phasen der Entwicklung spielen und vergleichen. Als Minimallösung ließen sich zwei prägnante Szenen gegenüberstellen: Im ersten Drittel entlädt sich nach der roten Brandmarkung von Menschen der Hass durch Mitbürger*innen. Gegen Ende suchen die Kinder Gegenstände in Türmen aus Koffern und Besitztümern vernichteter Menschen.
Weiterführendes Material
- Reinhard, Claudia. „Kann man das Grauen durch Spielen begreifen? Videospiel ‚My Memory of Us‘.“ FAZ plus, zuletzt aufgerufen am 5.6.2021.
- Walker, John. „My Memory of Us is a Holocaust Story with Robots and Hmmm.“ Rock Paper Shotgun 19.2.2017, zuletzt aufgerufen am: 3.6.2021.
- Briesenick, Stefan. „My Memory of Us. Kritik“ [incl. Video-Interview]. Gamereactor 9.10.2018, zuletzt aufgerufen am: 3.6.2021.
- Byrd, Christopher. „‘My Memory of Us‘ is a stylishly animated adventure with a storyline some might find off-putting.“ The Washington Post. Online 19.10.2018, zuletzt aufgerufen am: 5.6.2021.
Zitierempfehlung
Nolden, Nico. „My Memory of Us“. Datenbank Games in der Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 24.06.2021. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]