Spielecover Anno 1800

Anno 1800

Das Strategiespiel Anno 1800 ermöglicht es Spieler*innen vor dem historischen Hintergrund von Industrialisierung und Kolonialismus ihr eigenes Wirtschaftsimperium zu errichten.

Allgemeine Infos

  • Entwickler: Ubisoft Blue Byte (Deutschland)
  • Publisher: Ubisoft
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Genre: Simulator, Strategy
  • Thema: Industrialisierung, Kolonialismus, Wirtschaft
  • Zugänglichkeit: Deutsche Sprachversion, Englische Sprachversion
  • Vermittlungspotenzial Mittel
  • Zeitaufwand Hoch
  • Komplexität Mittel
Erklärungen zur Bewertung

Trailer

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Erinnerungskulturelle Einordnung

Autor: Felix Zimmermann

Felix Zimmermann forscht zu Digitalen Spielen als Teil erlebnisorientierter Geschichtskulturen sowie zum atmosphärischen und erinnerungskulturellen Potential des Mediums.

Das Ziel aller Teile der bis ins Jahr 1998 zurückreichenden Anno-Spielereihe ist der Aufbau eines sich über zahlreiche Inseln erstreckenden Wirtschaftsimperiums. Spieler*innen erreichen Spielfortschritt, indem sie immer komplexer werdende Warenketten optimieren und so die Bedürfnisse der Inselbewohnenden befriedigen. Gelingt dies, steigen die Bewohnenden von Bauern, über Arbeiter, Handwerker und Ingenieure bis zu Investoren auf, was jeweils neue Bedürfnisse bedeutet, die es zu befriedigen gilt. Entscheidend ist dabei, dass die besiedelten Inseln untereinander mit Schifffahrtsrouten vernetzt werden müssen, da bestimmte Rohstoffe nur auf bestimmten Inseln verfügbar sind, doch auf anderen benötigt werden. Spieler*innen nehmen in Anno 1800 somit einerseits die Rolle von Städtebauenden ein, wenn sie Wohnhäuser und Produktionsstätten geschickt auf den verschieden großen Inseln platzieren. Andererseits agieren Spieler*innen als Verwaltende eines imperialen Großreiches, wenn sie Handelsrouten optimieren und hin und wieder auch Kriegsschiffe in die Schlacht schicken, um so die in der Regel computergesteuerten Konkurrent*innen mit wirtschaftlicher oder militärischer Macht zu bezwingen.

Video-Kurzreview

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Erinnerungskulturelle Bedeutung

Zuvor primär in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kontexten, teilweise auch in Zukunftsszenarien angesiedelt, betritt die Spielreihe mit Anno 1800 erstmals das 19. Jahrhundert. Die Reihe findet mit Anno 1800 geradezu zu sich selbst, denn das kapitalistische Wirtschaftssystem passt jetzt erstmals wirklich zum gewählten Szenario. Entsprechend lassen sich hier Profitstreben und Kapitalakkumulation spielerisch nachvollziehen, wobei Letztere nicht zuletzt auch in Form der Bevölkerungsgruppe der Investoren eine Personifizierung im Spiel findet. Anno 1800 zeichnet sich so – wie auch schon seine Vorgängerspiele und in Abgrenzung zu anderen (Aufbau-)Strategiespielen – durch eine (Über-)Betonung von Wirtschaft und Warenkreisläufen aus, während politische und soziale Kontexte weitestgehend ausgeblendet bleiben. Eine Ausnahme bilden die Arbeiteraufstände, mit denen Spieler*innen sich konfrontiert sehen können und die sich auch in das gewählte Industrialisierungssetting einbetten. Letzteres nimmt klar Bezug auf die popkulturell wohlverankerte englische Industrielle Revolution und ruft nicht zuletzt mit den im Spiel visualisierten Architekturen auch Bilder des Viktorianischen England auf. England bzw. Großbritannien steht hier exemplarisch für Industrialisierung und Imperialismus, ohne dass eine kritische Einordnung erfolgen würde.

Diskussionspunkte

Wenn der Aufbau eines Wirtschaftsimperiums das Ziel des Spiels ist, dann bedeutet das für Anno 1800 – wie auch seine Vorgänger –, dass Expansion zwangsläufig notwendig ist, wenn Spieler*innen im Spiel erfolgreich sein wollen. Anno 1800 folgt in diesem Sinne einem Expansionsdenken, das in zahlreichen (Aufbau-)Strategiespielen zu finden ist. Ein problematisches Spannungsverhältnis ergibt sich, weil die etablierten und erfolgreichen Spiellogiken auf ein historisches Setting treffen. Da Anno 1800 ganz dezidiert den Aufbau eines Imperiums als Spielziel ausgibt, während es Assoziationen zum britischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts aufruft, liegt es nahe, das Spiel als eine Art „Kolonialismussimulator“ zu deuten. Diese Betrachtung ist von den Entwickler*innen des Spiels weder intendiert noch gewünscht, doch die Frage steht im Raum, ob das Wirtschaftswachstum des Spielimperiums nicht eigentlich auf kolonialistischen Praktiken beruht. So können Spieler*innen die sogenannte „Neue Welt“ besiedeln, um dort z. B. Kaffee und Rum anzubauen, nach dem sich die höheren Bevölkerungsstufen sehnen. Die Arbeit auf den Inseln verrichten dort die nicht-weißen Bevölkerungsgruppen der Jornalero und Obrero. Zu jedem Zeitpunkt suggeriert Anno 1800 hier Freiwilligkeit und Zufriedenheit, was zum grundlegend romantisierten Geschichtsbild der Reihe passt. Formen der Zwangsarbeit und Sklaverei, die für die realweltliche, kolonialistische Plantagenökonomie kennzeichnend war, werden ausgeblendet.

Einsatzmöglichkeiten

Anno 1800 bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine kritische Auseinandersetzung in pädagogischen Kontexten. Auf der einen Seite kann darauf abgehoben werden, dass Anno 1800 wirtschaftliches Wachstum idealisiert und dabei die realen, vor allem menschlichen Kosten des damit verbundenen Expansionismus ausblendet. Auf der anderen Seite greift es zu kurz, Anno 1800 die alleinige Schuld für über Jahrzehnte traditionalisierte Spielmechaniken eines Genres zu geben, das weit über Anno 1800 hinaus Probleme mit einer Naturalisierung von (europäischer) Expansion hat. Auch sollte nicht vergessen werden, dass Anno 1800 als Teil einer erfolgreichen Spielereihe ein spezifisches Profil entwickelt hat – von Spieler*innen oft „Anno-Gefühl“ genannt –, das mit Themen wie Sklaverei kaum kompatibel scheint. An Anno 1800 ließe sich so eine spezifische Form von Medienkompetenz – oft als „Gaming Literacy“ bezeichnet – schulen, die es ermöglicht, Spannungen zwischen Spielmechanik und Setting aufzudecken, diese aber auch in weitere Kontexte von Games-Rezeption und -produktion einzuordnen. Ein Spielen von Anno 1800 in pädagogischen Kontexten würde also in jedem Fall einer kritischen Begleitung bedürfen. Aufgrund der recht hohen Hardwareanforderungen des Spiels und der Komplexität der Spielmechanik bietet es sich an, hier gegebenenfalls mit Videomaterial in Form von Let’s Plays o. ä. zu arbeiten.


Weiterführendes Material

  • Winnerling, Tobias. „How to Get Away with Colonialism. Two decades of discussing the Anno Series.“ In *History in Games. Contingencies of an Authentic Past*, herausgegeben von Martin Lorber und Felix Zimmermann, 221-236. Bielefeld: transcript, 2020.
  • Deppe, Martin. „Der große Anno-Report. 21 Jahre Inselraffen“ In Gamestar Sonderedition. Anno 1800. Das Ultimative Kompendium, 130-146. München: Webedia, 2019.
  • Mukherjee, Souvik. Videogames and Postcolonialism. Empire plays back. Cham: Palgrave Macmillian, 2017.
  • Cook, Matt. „DevBlog: Wahrheit oder Fiktion?“ Letzte Änderung am 21.09.2017
  • Schwarz, Angela. „Bunte Bilder — Geschichtsbilder? Zur Visualisierung von Geschichte im Medium des Computerspiels.“ In Computer|Spiel|Bilder<, herausgegeben von Benjamin Beil, Marc Bonner und Thomas Hensel, 219-253. Glückstadt: Hülsbusch, 2014.
  • Heinze, Carl. Mittelalter Computer Spiele. Zur Darstellung und Modellierung von Geschichte im populären Computerspiel. Bielefeld: transcript, 2014.
  • Nohr, Rolf F. und Serjoscha Wiemer. Strategie Spielen. Medialität, Geschichte und Politik des Strategiespiels. Münster: Lit Verlag, 2008.

Zitierempfehlung

Zimmermann, Felix. „Anno 1800“. Datenbank Games in der Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 24.06.2021. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]

Förderer

Dieser Beitrag wurde finanziert durch Fördermittel der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ). Die Video-Kurzreview dieses Beitrags wurde aus Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus gefördert.