Gemein – aber nützlich! Schaden digitale Spiele unserer Gesellschaft?

Autor*in
Ina Weh
Ursprünglich veröffentlicht am
27.10.2016

Schaden digitale Spiele unserer Gesellschaft? Oder verdienen Turniere wie eSport sogar das Prädikat der Gemeinnützigkeit? Eine empirische Studie deutet darauf hin.

Je offensichtlicher digitale Spiele unserer Moral spotten, desto größer ist ihre Faszination. Doch vom enormen Spaß an extrem niederen Instinkten profitieren wahrscheinlich gerade friedliche komplexe Gesellschaften. Denn unsere anspruchsvollen Werte brauchen Kontraste, um im Bild von der Welt erkannt und verstanden zu werden.

Oder Bertolt Brecht zitiert: „Und den Widerspruch aus den Dingen entfernen; ist es zu eindeutig? Dann ist es unbrauchbar, was ihr sagt. Euer Ding ist dann leblos.“

Offenbar übernimmt das Spiel dafür eine wesentliche Funktion. Das zeigt ein Ergebnis der Studie, die im Rahmen meiner Dissertation über das Kennzeichen des Spiels aus Sicht der Systemtheorie (s. u.) entstand. Die Studie beweist, dass Menschen mit Spielerfahrungen sich selbst und ihre Umwelt deutlich besser und differenzierter einschätzen können als sogenannte ‚Nicht-Spieler‘.
Das ist schon auf den ersten Blick sehr nützlich. Denn bei Stabilität und Fortschritt bauen komplizierte soziale Netzwerke auf Selbstverantwortung. Voraussetzung dafür ist ein Vertrauen in das eigene Urteil. Auf den zweiten Blick kann das spielerische Drehen und Wenden ein Problem auffangen, vor dem schon Niklas Luhmann in seiner Theorie Sozialer Systeme warnte: Moderne ausdifferenzierte Gesellschaften seien zunehmend von Emotionalität bedroht – wenn Gefühle zu „freien Radikalen“ werden. Denn die richtig großen Gefühle, der Stolz auf sich selbst, entstehen durch Herausforderungen.
Die Hirnforschung belegt, dass schon die Natur dafür mit einem Wettbewerb lockt. Sie belohnt vorwitzige Probierbewegungen mit besonders viel Dopamin, wenn daraus ein unerwarteter Erfolg wird. Im Kern geht es dann um die Frage, ob dabei auch Irrtümer erlaubt sind – und warum wir dafür die Sonderzone ‚Spiel‘ brauchen. Zu Beginn unseres Lebens machen Herausforderungen ja noch Spaß. Kein Wunder: Biologische Systeme ‚überspeichern‘ Erfahrungen. Was sich nicht bewährt, wird gelöscht und vergessen. Lernen heißt in neurobiologischen Strukturen eben nicht Kopieren, sondern Filtern nach Relevanz. So wissen wir aus dem Bauch heraus immer sicherer, was richtig ist. Aber im Laufe unserer Entwicklung orientieren wir uns an einem ‚Sinn‘. Das Leben bekommt so eine bestimmte Richtung und macht Entscheidungen prinzipiell irreversibel. Man muss sie rechtfertigen und Fehler sind ein Versagen.

Richtig schwierig wird es, wenn jeder seinen Sinn selbst suchen muss. Vorallem für Jugendliche in der Phase der Neuorientierung. Die vielen möglichen Herausforderungen verunsichern. Dann steigt auch die Gefahr, dass sich Gefühle zunehmend mit sich selbst beschäftigen oder nach schnellen einfachen Wahrheiten suchen. Nun belegt die Studie auch, dass wir uns im Spiel nicht mehr an einem Sinn orientieren. Damit gibt sie Brian Sutton-­Smith Recht: Entscheidungen im Spiel sind reversibel. Spielende formatieren also interessante Dateien so um, dass sie zu ihrer herkömmlichen biologischen Software passen. Und die enthalten eben das, was unsere Gesellschaft am meisten irritiert und in Atem hält: Wettbewerb, Macht, Gewalt oder Zugehörigkeit in globalen Netzwerken – reale Tragödien, die jetzt zur Komödie werden, weil sie wieder unter positivem Vorzeichen stehen. Und im digitalen Medium lassen sie sich nun mal am spannendsten in Szene setzen.

Es bleibt die Gefahr, dass jugendliche ‚einsame Wölfe‘ dies als Werkzeug für große Gefühle nutzen, um sich mit einfachen Wahrheiten selbst zu bestätigen. Doch gerade der eSport könnte helfen, das zu verhindern. Denn er nutzt die gleichen Kontraste für einen sportlichen Diskurs, in dem sich gleichberechtigte und gleichwertige Kontrahenten gegenseitig ernstnehmen. Gerade weil sie sich die Stirn bieten –­ so die Psychologin Jessica Benjamin in ihrem Paradox der Anerkennung – lernen Menschen sich einzuschätzen und zu achten. Und solange ihre Netzwerke Hoffnung auf Erfolgschancen bieten, zeichnet sich am Kontrast ab, was sich dafür bewährt Verantwortung im Team und Selbstvertrauen, Neugier und Durchhaltevermögen, Umgang mit Kritik und die Fähigkeit, den Widersprüchen der Welt mit Humor zu begegnen.

Lesen Sie die Dissertation Limitierte symbolische Generalisierungen als Merkmal des Spiels – eine Studie zur Unterscheidung rekursiver Erwartungen in Spiel- und Alltagshandlungen in voller Länge.


Ina Weh beobachtete das Thema „Spielen“ bereits in ihrem früheren Beruf als Physiotherapeutin. Den Vergleich von Theorie und Praxis verfolgte sie später im Studiengang für Kulturmanagement, im Studium der Gesundheits- und Erziehungswissenschaften – und an den eigenen Kindern. Heute ist sie pädagogische Beraterin und Coach für Jugendliche im Übergangsmanagement Schule-Beruf. Sie lebt in Hamburg.

ina.weh@gmail.com