This is not a fairy tale? – Digitale Spiele und Märchen
Während Amanda in der Stadtbibliothek schmökert, erscheint ihr plötzlich der magische Drache Bookwyrm und bittet sie um Hilfe. Alle Märchen in seinem Buch sind durcheinandergeraten und die Zauberwelt versinkt in heillosem Chaos. Zusammen sorgen sie in einer abenteuerlichen Reise ins Innere der Märchen dafür, dass schlussendlich alle glücklich und zufrieden sind. Was klingt wie der Plot eines Cornelia Funke-Romans, ist in Wirklichkeit die Handlung des Point-and-Click-Adventures „Mixed-Up Fairy Tales“. (Sierra On-Line, 1991).
Selbst als Computerspiele noch in den Kinderschuhen steckten, haben sie schon Märchenmotive aufgegriffen. Doch sind Märchen wirklich nur Kinderkram? Zeit, dem Verhältnis von Märchen und digitalen Spielen näher auf den Grund zu gehen.
Märchen als Kulturgut
„Knusper, knusper, Knäuschen“, „Rapunzel, lass dein Haar herunter“, „Großmutter, was hast du für große Augen?“ – kaum jemand im europäischen Raum kennt diese Zitate nicht. Die von Generation zu Generation tradierten Märchen schreiben sich tief in die kollektive Identität der Menschen ein und prägen die Kultur, in der sie entstehen und weitergegeben werden.
Märchen, Mythen und Legenden sind das Gedächtnis der Völker. Sie verbinden Epochen und Generationen, indem sie Werte und Selbstverständnis der Gemeinschaften überliefern, die sie hervorgebracht, weiterentwickelt und tradiert haben. Eindrücklicher als alle schriftlich niedergelegten Regeln des sozialen Miteinanders vermitteln Märchen seit Jahrtausenden gesellschaftliche Grundsätze.
So werden Märchen damals wie heute dazu genutzt, Kindern Werte zu vermitteln. Literatur- und Computerspielwissenschaftler Andreas Schöffmann nennt Märchen Wunschräume, die die ideale Gestaltung der Welt sowie die existierenden Missstände aufzeigen. Die Geschichten vermitteln dadurch nicht zuletzt die Werte einer Gesellschaft. Sie reflektieren die Lebensumstände, die sozialen Konstellationen und die Herrschaftsverhältnisse ihrer Entstehungszeit und beinhalten gleichzeitig etwas Magisches, das uns auch heute noch in seinen Bann zieht.
Es ist also nach wie vor wichtig, sich mit Märchen zu beschäftigen und zu verfolgen, wie sie einerseits immer wieder Stoff für neue Geschichten liefern und dabei andererseits in transformierter neu-interpretierter Fassung an kommende Generationen überliefert werden.
Computerspiele als Traditionsträger
Die Inhalte und die Form der Märchen wandeln sich somit über die Zeit, wodurch sie für immer neue Generationen attraktiv bleiben. Indem sie die Märchen ins Hier und Jetzt bringen, können neue Medien wie das Computerspiel einen wichtigen Beitrag leisten, das Kulturgut Märchen zu tradieren. Computerspiele sind eines der Formate, in denen das Märchenerzählen heute praktiziert wird. Dabei erlaubt es ihre Interaktivität den Nutzer_innen, selbst Teil des Geschehens zu werden und damit noch tiefer in die märchenhafte Welt einzutauchen.
Natürlich beeinflussen nicht nur die Märchen der Brüder Grimm die Computerspielwelt. Erzählungen aus aller Welt werden heute im Computerspiel verarbeitet. Die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht tauchen in zahlreichen Varianten auf. Vom einem der frühesten Vertreter „The Magic of Scheherazade“ (Culture Brain, 1987) bis hin zum Megahit „Prince of Persia – The Sands of Time“ (Ubisoft, 2003). Richard Rouse, Entwickler von „Prince of Persia“ schreibt dazu: „The Arabian Nights […] seemed to offer a lot of promise. It had all those great story possibilities which have been absorbed into our collective unconscious – genies, the voyage of Sinbad, Alladin’s cave. It was just crying out to be made as a computer game.”
Märchen wandeln sich stetig
Trotz ihrer Jahrtausendelangen Tradition wandeln sich Märchen stetig. Im Zuge ihrer Weitergabe an die nächste Generation werden die Märchen umerzählt und in neue Kontexte gerückt, ihnen werden neue Werte und Bedeutungen zugemessen. Märchen sind archetypische Geschichten, deshalb kommen uns Früh-Fassungen heute alles andere als kindgerecht vor. Die selbstverliebte Königin in Schneewittchen will die Schöne nicht bloß mit einem Apfel vergiften. Der Jäger soll ihr Schneewittchens Leber und Lunge bringen, damit sie sie verspeisen kann. Charles Perraults Rotkäppchen bekommt vom Wolf gar das Blut der eigenen Großmutter als Trunk gereicht und muss sich unbekleidet ins Bett der Großmutter legen, wo der Wolf über sie herfällt. Ein Happy End gibt es in dieser Version nicht.
Beide Spiele sind westliche Interpretationen der gesammelten Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, deren Ursprünge im persischen oder indischen Raum vermutet werden. Anders verhält es sich mit „Unearthed – Trail of Ibn Battuta“ (Semaphore, 2014). Das Action-Adventure wurde von einem saudi-arabischen Studio entwickelt. Darin verfolgt ein Geschwisterpaar die Spuren des berühmten Weltreisenden Ibn Battuta, dessen Aufzeichnungen „Al Rihla“ aus dem 14. Jahrhundert bis heute Teil des Märchenschatzes der arabischen Welt sind.
Vom brennend heißen Saudi-Arabien ins eiskalten Alaska: Das Setting, die Erzählung und der künstlerische Stil des Jump-and-Run-Puzzlespiels „Never Alone – Kisima Inŋitchuŋa“ (Upper One Game/E-Line Media, 2014) wurde unter Mithilfe von Mitgliedern des Volkes der Iñupiat entwickelt. Das Jump-and-Run Spiel hat in der Indie-Szene viel Aufmerksamkeit erregt und kann als Versuch gelten, die aussterbende Kultur der Iñupiat zu bewahren.
Märchen als Quelle für Spiele-Entwickler*innen
Beide Beispiele zeigen, dass moderne Story-Writer die Narrative und Motive der Märchen als reiche Inspirationsquellen nutzen. Wie Thomas Lackner schreibt, arbeiten Computerspiele mit „archetypischen Heldenbildern und Figuren, die aus einem kollektiven Gedächtnis transformiert werden“. Dabei übernehmen die digitalen Spiele die Motive der Märchen selten 1:1, sondern brechen vielmehr mit klassischen Mustern der traditionsreichen Geschichten. So werden in „The Wolf among us“ (Telltale, 2013-2014) die klassischen Märchen- und Fabelwesen nach New York City im Film-Noir-Stil versetzt. Als Sheriff der Stadt löst der Große Böse Wolf (Bigby Wolf) Kriminalfälle, Schneewittchen an seiner Seite. Das Märchenwissen der Spielenden verschafft den Charakteren zusätzliche Tiefe: Warum Bigby und der Jäger (Woodsman) verfeindet sind, braucht hier nicht mehr viel Erläuterung.
Spiele wie „The Path“ (Tale of Tales, 2009) und „American McGee’s Grimm“ (Spicy Horse, 2008-2009) werfen die Frage auf, welche alternativen Verläufe und Enden die Märchen haben könnten. Auffällig ist, dass die scheinbar heile Märchenwelt, wie sie uns heute vermittelt wird, in vielen spielerischen Adaptionen in eine Horrorwelt umgedeutet wird. Wir assoziieren Märchen mit kindlicher Naivität und mit der Gewissheit, dass das Gute am Ende siegt. In seiner radikalen Unschuld bietet sich dieser Topos geradezu an, um in sein Gegenteil verdreht zu werden.
Damit rekurrieren viele der Spiele wieder auf die ursprünglichen Formen der Märchen, wie etwa das populäre Indie-Spiel „The Path“. Als Rotkäppchen wandern die Spielenden durch eine surreale Welt, die von Tod und Angst geprägt ist. Wenn Rotkäppchen den Wolf trifft, blendet das Bild aus und das Mädchen wacht auf dem Weg, den sie einst verlassen hatte, in einer gekrümmten Haltung auf. Hierin erkennt Andreas Schöffmann das Motiv der Vergewaltigung durch den Wolf wieder.
Weibliche Charaktere in märchenhaften Computerspielen
Rotkäppchen taucht in einer Vielzahl von spielerischen Adaptionen auf. Auch „Woolfe – The Red Hood Diaries“ (GRiN Gamestudio, 2015) und „Dark Parables – The Red Riding Hood Sisters“ (Blue Tea Games, 2014) sind düstere Märcheninterpretationen, auffällig ist hier aber ein weiterer Aspekt. Die Rotkäppchenfiguren sind in den Spielen keine naiven Mädchen, sondern wehrhafte Kämpferinnen, die es mutig mit dem Wolf und anderen Gegner_innen aufnehmen.
Im Browser Game „Cinderella – Love on the Run“ (DressUpWho, ca. 2015) nimmt Aschenputtel ihr Glück zwar gewissermaßen selbst in die Hand, muss dabei aber lernen, dass der Prinz sie nur in prächtigen Kleidern und mit perfektem Makeup liebt, dass er es nicht schätzt, wenn sie auf seine Schmeicheleien freche und lebenspraktische Antworten gibt und er letztendlich sowieso nur mit einem Liebestrank um den Finger gewickelt werden kann.
Hier könnten sich Computerspiele stärker an emanzipierten Märchencharakteren orientieren, beispielsweise an Gerda, die ihren Freund Kai nach einer gefährlichen und mühevollen Reise aus den Fängen der Schneekönigin befreit oder an der „Prinzessin, die nicht erlöst werden will“.
Und wenn sie nicht gestorben sind… dann leben die Märchen noch heute
„This is not a fairy tale“ – mit diesen Worten beginnt der Trailer von „Woolfe – The Red Hood Diaries“. Wie gezeigt wurde, lassen sich dennoch durchaus Verwandtschaftsgrade und gemeinsame Anliegen von Märchen und Computerspielen erkennen. Während eine wichtige Funktion der Märchen die Wertevermittlung ist, zeigen Computerspiele wie Mixed-Up Fairy Tales, dass auch digitale Spiele wichtige Lerninhalte vermitteln können. Am Ende des Kinderspiels stellt sich heraus, dass der böse Troll Bookend die Märchen absichtlich durcheinandergebracht hat, weil er, erbost über seine Unfähigkeit zu lesen, einen Hass auf Bücher entwickelt hat. Als der Drache Bookwyrm ihm verspricht, ihm das Lesen beizubringen, sind alle – wie im Märchen – glücklich und zufrieden. Insbesondere der Trailer zum Spiel verdeutlicht, dass das Spiel die Intention verfolgt, Kindern das Lesen und die Buchkultur näher zu bringen. Das Erspielen von Märchen sollte das (Vor-)Lesen von Märchen keinesfalls ersetzen, aber das Computerspiel kann einen wichtigen Beitrag leisten, die Märchen in die heutige Zeit zu übersetzen und neue Perspektiven auf die alten Texte zu ermöglichen.
Mehr unter: http://www.märchenland.de/berliner_maerchentage/vorschau_maerchentage.html
Lese-Tipps
- Thomas Lackner: Computerspiele und Lebenswelt – Kulturanthropologische Perspektiven, 2014
- Prof. Winfred Kaminski über Mythos und Computerspiele: http://www.phantastik-couch.de/mythos-und-computerspiele.html
- Andreas Schöffmann über märchenhafte Computerspiele und Werteerziehung: http://www.paidia.de/?p=6799
- Bruno Bettelheim: „Kinder brauchen Märchen“; Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart, 1977
- Stephanie zu Guttenberg (Hrsg.), Silke Fischer und Bernd Philipp, „Die Märchen-Apotheke“, Kösel-Verlag München, 2011
- Gerald Hüther, „Weshalb Kinder Märchen brauchen – Neurobiologische Argumente für den Erhalt einer Märchenerzählkultur“, Beitrag für Kongressband Märchenkongress in Bad Karlshafen, Herbst 2005