Kultur

All Ethics and no Play? – Von Moral, Aristoteles und Videospielen

© Square Enix: Life is Strange, 2015

Von Moral, Aristoteles und Videospielen

In einem Artikel zum Thema Kulturgut Videospiel spricht Manfred Spitzer Videospielen den kulturellen Gehalt völlig ab, weil diese im Gegensatz etwa zu Musik oder Theater weder positiven Einfluss auf die Gesellschaft noch auf menschliches Handeln hätten. Nicht nur in seinen Arbeiten muss man lesen, ein Zuviel an Spielen führe zu moralischer Abstumpfung. Demnach bestreiten nicht mal Kritiker, dass Spiele wirken können. Umso interessanter daher die Frage, ob sie auch positive Auswirkungen auf die moralische Entwicklung von Spieler*innen haben. Als einer der Klassiker der praktischen Philosophie bietet Aristoteles eine geeignete Ausgangsbasis, um sich vertieft mit diesem Thema zu beschäftigen.

Kunst – Karthasis – Kompetenz

Aristoteles beschäftigte sich in mehrerer seiner Schriften mit der moralischen Verfasstheit von Mensch und Gesellschaft, darunter die Nikomachische Ethik. Für die Betrachtung von Videospielen sind drei elementare Aussagen festzumachen:

1)      Kunst, insbesondere die Tragödie, ist in der Lage, ihre Zuschauer zu moralisch besseren Menschen zu machen

2)      Ethische Tugenden sind nur dann von Wert, wenn sie durch Training zu einem Dauerzustand werden

3)      Menschen müssen für alle Tugenden lernen, den Mittelweg zwischen Übermaß und Mangel zu finden.

Definierendes Element der Aristotelischen Lehre ist das Prinzip der Katharsis, also der Reinigung der Seele durch das Sich-Verlieren in der Kunst. Dabei können Menschen positive wie negative Emotionen in einem kontrollierten Setting erleben und ausleben und sich so auf Ereignisse in ihrer Lebenswelt besser vorbereitet wissen. Spiele können wie kein anderes Medium ein Testparcours sein, um moralische Entscheidungen zu durchdenken, Katharsis zu erleben und dadurch Einstellungen gegenüber Problemen des eigenen Lebens zu entwickeln.

Videospiele haben dabei den großen Vorteil, dass sie auf das Handeln von Spieler*innen reagieren und den Inhalt je nach Situation anpassen können. Sie geben durch moralische Einstellungen ihrer Entwickler*innen stets auch eine Rückmeldung auf Nutzer-Verhalten, welche Rückschlüsse auf die echte Welt erlaubt. Dieses direkte Feedback erlaubt der handelnden Person, ihre Aktion im Kontext des Spiels zu bewerten, zu überdenken und Rückschlüsse daraus zu ziehen.

Wiederholen Spieler*innen auf diese Weise stetig moralisches Handeln in verschiedenen Situationen, folgt daraus nach der Lehre von Aristoteles die sogenannte Phronesis: die Kompetenz, aus sich selbst heraus ethisch zu handeln statt lediglich universell anerkannte Werte zu reproduzieren. Darin findet sich die Logik wieder, dass Tugenden nur dann von Wert für einen Charakter sind, wenn sie kontinuierlich trainiert werden. Aristoteles vergleicht dies mit einem Handwerk, welches zur Verbesserung der Fähigkeiten ebenfalls konsequent angewandt werden müsse.

Wie schnell Spiele ihre Nutzer zur Demut und dem Mittelmaß von Tugenden antreiben, zeigen etwa Spiele wie Dark Souls (From Software, Bandai Namco, 2011) oder Multiplayer-Gefechte in Spielen wie Battlefield (Electronic Arts / DICE, 2002 ff.). Wer dort seinen eigenen Heroismus nicht zügeln kann, verspielt den Sieg.

Ansprüche an die Spiele-Entwicklung

Aus diesem Potential von Spielen für praktische Ethik ergeben sich allerdings unweigerlich weiterführende Fragen, denen sich Spiele stellen müssen. So wie nicht jedes Theaterstück dieselbe reinigende Wirkung auf Menschen ausübt, so gibt es auch Kriterien, die Spiele bestmöglich erfüllen sollten, um Spieler*innen ein moralisches Level-Up zu ermöglichen.

1.       Bietet das Spiel echte moralische Entscheidungen?

2.       Beeinflussen die Entscheidungen Spielerlebnis und Narration?

3.       Führen alle Entscheidungen zum selben Ende?

Um Signifikanz zu haben, müssen die Entscheidungen für Spieler*innen bedeutend sein. Dies gilt sowohl für die, die unweigerlich zu einem bestimmten Ergebnis führen als auch für jene, bei denen das Resultat der Entscheidung vorher unsicher ist. Wichtig ist, dass Spieler*innen sich mit echten moralischen Dilemmata auseinandersetzen müssen, ohne dass ihnen vom Spiel eine richtige oder falsche Lösung vorgegeben wird. Spiele sollen nicht moralistisch sein, sondern moralische Entscheidungen auf der semantischen Ebene anbieten. Nur so können sie im Sinne von Aristoteles ihre Überzeugungen und Werte anwenden und in verschiedenen Kontexten überprüfen. Nicht jede Entscheidung mit Konsequenzen ist dabei moralisch. Manche sind spielerisch wertvoll und unterhaltsam, haben aber keine ethische Komponente.

Die Entscheidung als Gütekriterium?

Videospiele wie Fallout (Bethesda, 2008 ff.) ermutigen dazu, immer wieder über die Moral eigener Entscheidungen nachzudenken und verlaufen dabei primär in Grauzonen abseits von klaren Gut-/Böse-Entscheidungen. Viele Quests haben mehrere Lösungswege, welche alle mit bestimmten Nachteilen behaftet sind. Ein Beispiel findet sich in der Sklavenhändler-Quest in Fallout 3 in Paradise Falls. Dort hat man die Wahl, gefangene Kinder aus den Händen der Sklavenhändler zu retten, muss aber vorher selbst Menschen versklaven, um Zutritt zur Stadt zu erlangen. Alternativ weigert man sich, selbst als Sklavenhändler aufzutreten, überlässt jedoch die Kinder ihrem Schicksal.

Solche Momente fordern zu Abwägungen auf, welche in der Summe zu eben der praktischen Weisheit führen können, die Aristoteles als elementare Chance der Kunst für die Charakterentwicklung sieht.

Manche Spiele verlegen jedoch ihre Entscheidungen von der semantischen auf die prozedurale Ebene. Ethik als vermeintliches Gameplay-Element funktioniert allerdings in den meisten Fällen nicht. Wenn etwa bei Mass Effect (Electronic Arts / Bioware, 2007 ff.) das Spiel in Dialogen die moralisch beste und schlechteste Option jeweils farblich als Vorbild oder Abtrünniger markiert, muss man nicht selbst das Für und Wider abwägen. Stattdessen muss ausschließlich die Entscheidung gut oder böse getroffen werden, wobei man sich bei der Zuordnung auf das Spiel verlässt. Ein solches Verfahren ist nicht vergleichbar mit dem eigenen ethischen Abwägen, was Aristoteles verlangt.

Dies zeigt eine geringe Wertschätzung für die Kapazität von Spieler*innen, moralische Situationen einzuordnen und Entscheidungen zu beurteilen. Dies zeigt sich auch dann, wenn getroffene Entscheidungen im späteren Spielverlauf keinerlei Relevanz haben oder alle zum selben Resultat führen. Bereits kleine Auswirkungen, etwa das Hinzufügen oder Streichen bestimmter Handlungsoptionen im Spielverlauf, genügen, damit Spieler*innen sich in ihrem moralischen Urteil ernst genommen fühlen. Fehlen diese, durchschauen sie das schnell. Moralisches Lernen findet so nicht statt.

Nehmen Spiele-Entwickler*innen diese Aspekte ernst, helfen virtuelle Welten, die moralische Machart unserer eigenen Welt besser zu verstehen. Statt der befürchteten moralischen Abstumpfung liegt die Chance von Videospielen also gerade in einer Sensibilisierung für und Erweiterung von moralischen Perspektiven von Spieler*innen. Videospiele verdienen daher nicht nur ihren Status als Kulturgut, in ihnen liegt von allen Kulturformen auch das vermutlich größte Potential für die moralische Entwicklung ihrer Nutzer*innen.

Header-Bild: Life is strange, Press Kit