Forschung

Gender und Gaming

© Square Enix / Crystal Dynamics. Tomb Raider, 2016

Digitale Spiele sind mittlerweile Teil der Populärkultur und der Alltagsunterhaltung sowie zweifelsfrei ein gesellschaftlich relevantes Massenmedium. In Deutschland, wo Computer- und Videospiele seit 2008 offiziell als Kulturgut anerkannt werden, wurden 2016 ca. 2,9 Milliarden Euro mit digitalen Spielen umgesetzt (BIU Daten), mehr als mit der Fußball Bundesliga. Zum Vergleich: der Umsatz von RTL im selben Kalenderjahr lag bei 2,2 Mrd. Euro (vgl. Gameswirtschaft ).
Laut Branchenverband BIU spielen rund 34 Millionen Deutsche digitale Spiele, davon rund 29 Millionen regelmäßig. Rund die Hälfte (47%) der Spieler ist weiblich – im Jahr 2015 spielten also in Deutschland rund 16 Millionen Frauen digitale Spiele. Jedoch galten Computer- und Videospiele seit ihrer Entstehung lange Zeit als „Boys Toys“ lange, zu denen Frauen eher keinen bzw. wenig Zugang hatten, obwohl sie einerseits als Spieler und andererseits als „Käufer“ von Games relevant sind (Frauen treffen auch oft Kaufentscheidungen für männliche Familienangehörige).

Die Tatsache, dass Mädchen und Frauen mittlerweile Computer- und Videospiele ebenso häufig und intensiv nutzen wie Jungen und Männer, konfrontiert die Spieleindustrie mit Fragen, etwa, ob die Angebote an digitalen Spielen dem weiblichen (Konsum-) Interesse gerecht werden, ob die Branche Mädchen und Frauen attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten bieten kann und ob ausreichend Ausbildungsangebote bestehen, die auch für junge Frauen interessant sind.
Im Rahmen meiner Dissertation „Gender und Gaming. Frauen im Fokus der Games-Industrie“ (im Mai 2017 im transcript Verlag erschienen) habe ich versucht, unterschiedliche Ebenen, auf denen im Hinblick auf digitale Spiele Gender (re)konstruiert wird, zu differenzieren und zu untersuchen.

Die Hauptfrage dabei war: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Frauen als Konsumenten und Zielgruppe von digitalen Spielen und der Darstellung von Frauen innerhalb dieser bzw. auch dem Angebot an digitalen Spielen für Frauen andererseits, sowie dem Anteil an Frauen innerhalb der Wertschöpfungskette der Spieleindustrie? Um mich dieser Frage anzunähern, habe ich mich einerseits intensiv mit bisheriger Forschung zum Thema auseinandergesetzt und andererseits Experteninterviews mit ausgewählten Vertretern aus der deutschen Spieleindustrie geführt.
Im Folgenden sollen nun einige Ergebnisse meiner Arbeit skizziert werden. Die Themen „Ästhetische Darstellung von Weiblichkeit in digitalen Spielen“ sowie „Diversität in der Spieleindustrie“ werden in geplanten weiteren Beiträgen separat dargestellt.

Unter „Gender“ wird im Rahmen dieser Arbeit (und im Folgenden) – in Abgrenzung zum biologischen Geschlecht „Sex“ – das soziokulturelle Geschlecht bzw. die Geschlechtsidentität verstanden. Es wird also unterschieden zwischen dem biologischen Geschlecht, das Bezug nimmt zur Anatomie eines Menschen und dessen körperlichen Geschlechtlichkeit und dem nicht biologisch determinierten, sozial konstruierten Geschlecht. “Indeed, by dissociating gender from sex it becomes ap- parent that differences between males and females are socially constructed within our everyday experiences.”

Die Grundidee, dass die ästhetische Darstellung in digitalen Spielen (also: wie wird Weiblichkeit präsentiert und narrativ eingebunden?) mit den Bedingungen auf der Ebene der Produktion (wie viele Frauen sind an der Entwicklung der Spiele beteiligt) sowie auch der Medienrezeption (wie wirken Inhalte digitaler Spiele) – geht auf die nordamerikanische Game Designerin Tracy Fullerton zurück.

„In our conversations with female game design students and game designers we also identified the ‚chicken and egg‘ problem that more girls and women would be interested in games if more games existed.”

Dieser Zusammenhang wird als “Virtuous Cycle” beschrieben. „The authors refer to this as the ‚virtuous cycle‘ making games that appeal to women and girls attract more women to work on games, resulting in the creation of more games that appeal to women and girls.“

Zusammenhang der unterschiedlichen Ebenen (eigene Grafik, Hahn 2017)

Im Hinblick auf die Ebene des Konsums bzw. die Frage, ob und inwiefern geschlechtsspezifische Präferenzen im Hinblick auf digitale Spiele bestehen, kann aufgrund der bestehenden Forschung aufgezeigt werden, dass Frauen mittlerweile gleichermaßen wie Männer spielen, obwohl diese lange Zeit kaum Zugang zur notwendigen technischen Ausstattung (Videospielkonsolen u.ä.) hatten, die in den Anfängen der Videospielkultur noch aufwändig war. Mittlerweile können digitale Spiele jedoch längst nicht mehr als „Boy’s Toys“ bezeichnet bzw. Gaming als adoleszentes Hobby weißer, männlicher Jugendlicher verstanden werden.

„Das hängt damit zusammen, dass digitale Spiele DAS Leitmedium geworden sind und für unsere gegenwärtige digitale Kultur und insofern den Film als Leitmedium für die industrielle Kultur abgelöst haben und dann wäre es erstaunlich, wenn dieses Leitmedium nur von einem Geschlecht wahrgenommen wird und nicht von beiden.“ (Experte „P4“)

Auch wenn die Spielintensität sich bei Frauen den Männern angeglichen hat, so bevorzugen Mädchen und Frauen andere Spieleplattformen als Männer und andere Genres, wie beispielsweise auch Mobile & Social Games sowie überwiegend Casual Games, Simulations- und Rollenspiele. Frauen verfügen mitunter über andere Spielemotive als Männer, d.h. Freude und Spaß, Kreativität, das Aufbauen, das Zusammenspielen stehen im Vordergrund und weniger der Wettkampf bzw. kompetitive Elemente. Auch im bevorzugten Spielekontext unterscheiden sich Männer und Frauen: Frauen spielen oft allein, Männer hingegen oft in virtuellen Gemeinschaften und Teams. Für Frauen ist die Identifikation mit dem Spielcharakter wichtiger als für Männer.
Insgesamt betonten die interviewten Experten im Rahmen meiner Untersuchung, dass digitale Spiele mittlerweile von beiden Geschlechter ähnlich konsumiert werden.

„Ich weiß es nicht genau, ich glaube, dass Jungs und Mädchen mittlerweile mit Technik aufwachsen und deshalb von Anfang an auch für Mädchen ok ist sich damit zu beschäftigen. Das ist akzeptierter, auf dem Schulhof, das Mädchen auch einen DS haben, auch spielen. Spiele sind kein super komisches Hobby mehr, sondern eine ganz normale Freizeitaktivität und haben dadurch eine größere Zielgruppe.“ (Experte „P3)

Die Ebene der ästhetischen Darstellung von weiblichen Spielfiguren und Charakteren ist intensiv erforscht – zahlreiche Arbeiten bzw. Untersuchungen gehen bis auf die Mitte der 90er Jahre zurück, wobei der Diskurs im Zuge der #GamerGate-Debatte im Sommer 2014 wieder an Aktualität gewonnen hat. Zudem ist der Aspekt der ästhetischen und narrativen Repräsentation von Weiblichkeit in zeitgenössischen digitalen Spielen auch unter medienpsychologischen Aspekten relevant, weshalb hierzu noch an anderer Stelle ein dezidierter Beitrag folgen wird.
Insgesamt äußerten alle Experten, dass weibliche Charaktere nach wie vor quantitativ seltener vorkommen als männliche, was wenig überraschend mit dem Stand der Forschung übereinstimmt.
Darüber hinaus sind diese auch meist qualitativ für den Spielverlauf weniger bedeutsam als ihre männlichen Pendants, d.h. für die narrative Relevanz im Spiel sind sie oft weniger relevant sind und tauchen zumeist auch nur in Opfer- und Nebenrollen auf.
Die ästhetische Darstellung weiblicher Figuren basiert oft auf Stereotypisierung und sexueller Stilisierung – Frauen werden reduziert auf übergroße Geschlechtsorgane in wenig oder unpassender Kleidung. Zwar werden männliche Charaktere in ihrem körperlichen Erscheinungsbild ähnlich stereotyp dargestellt, jedoch werden sie eher idealisiert und nicht sexualisiert. Zudem sind die weiblichen Charaktere meist schlechter mit Waffen, Kompetenzen oder Fähigkeiten ausgestattet, so die Forschungslage. Einige Experten betonen jedoch auch, dass digitale Spiele ein fiktives Format bzw. eine Kunstform seien, weshalb diese nicht reglementiert werden könnten und sollten:

„Also, wir sind fast immer in einer Fiktion unterwegs und das heißt, da wird natürlich auch überzogen, da wird auch übertrieben, da wird auch im besten und im schlechtesten Sinne übertrieben im Hinblick auf ästhetische Vorstellungen.“ (Experte „T4“)

Insgesamt wird jedoch Hinblick auf die Ästhetik betont, dass digitale Spiele sich stark verändern und ausdifferenzieren und im Zuge dessen auch die ästhetische und narrative Darstellung von Weiblichkeit (und Männlichkeit).

„Ich glaube, dass sich das zunehmend ändert. Also, dass Videospiele auch eine größere Vielfalt abbilden können, die eher der Gesellschaft entspricht. So langsam geht es in diese Richtung, aber was bis jetzt zu sehen war, spiegelt das nicht wirklich wieder. Und ich glaube, dass das andere Medien besser können“ (Experte „T2“).

Auf der Ebene des Produktangebotes stellt sich im Hinblick auf den Virtuous Cycle die Frage, inwiefern das bestehende Angebot an digitalen Spielen der weiblichen Zielgruppe gerecht wird. Versuche des sogenannten „Girls Game Movement“ Mitte bis Ende der 90er Jahre des letzten Jahrtausends, welches Spiele dezidiert für die weibliche Zielgruppe entwickelte und vermarktete, waren nur kurzfristig erfolgreich. Trotzdem konnte die Spielebranche spätestens seit Überraschungserfolgen, wie z.B. Barbie Fashion Designer (1998), die Existenz bzw. den Bedarf der weiblichen Spielerschaft als Zielgruppe nicht mehr leugnen.

„Man hat nur 50 Prozent der Menschheit sozusagen angesprochen mit dem, was man gemacht hat und das ist natürlich ein Umsatzpotential, das irgendwann mal gehoben werden muss. wird auch im besten und im schlechtesten Sinne übertrieben im Hinblick auf ästhetische Vorstellungen.“ (Experte „P1“)

Die Tatsache, dass in den letzten Jahren der Anteil spielender (und Spiele kaufender) Frauen deutlich gestiegen ist, bis hin zur Hälfte aller Spiele, kann m.E. dabei nicht unmittelbar als Argument für ein stimmiges Angebot an die weibliche Zielgruppe gelten. Es bleibt hier kritisch zu hinterfragen, inwiefern ein Angebot speziell für Frauen angebracht und/oder wünschenswert wäre bzw. ob nicht die Gefahr der „Ghettoisierung des Angebotes“ drohen würde.
Die Ebene der Produktion, d.h. die Beteiligung von Frauen an der Entwicklung und Vermarktung digitaler Spiele ist seit einigen Jahren durchaus im öffentlichen Diskurs, nicht nur, aber eben auch innerhalb der Spieleindustrie. Insgesamt kann festgestellt werden, dass Frauen gegenwärtig in der Games-Branche noch deutlich unterrepräsentiert werden, wenngleich ein positiver Trend zu beobachten ist. Die Gründe dafür liegen jedoch bislang nicht klar auf der Hand, obwohl es einige empirische Untersuchungen gibt, die Ursachenforschung zu betreiben versuchen.

Im Rahmen meiner geführten Expertengespräche wurden sehr unterschiedliche Aspekte benannt, u.a. dass sich Frauen eher weniger für die Spieleindustrie interessieren bzw. auch, dass Frauen sich generell wenig für technische Berufe interessieren und die Berufe innerhalb der Games-Branche als Teil dessen zu verstehen seien. Dabei arbeiten laut einer Untersuchung von Lizzie Haines (2004) nur 25 Prozent der Frauen in der Spieleindustrie in technischen Bereichen.
Aber auch Spezifika von weiblichen Karrieren innerhalb der Branche (u.a. das Crunch-Time-Phänomen, der Gender Pay Gap oder ein hohes Flexibilitätserfordernis) werden als mögliche Gründe für die Unterrepräsentanz von Frauen benannt.
Alle Experten sehen jedoch auch eine positive Entwicklung und prognostizieren, dass der Anteil von jungen Frauen an der Entwicklung und Vermarktung von digitalen Spielen in den nächsten Jahren wachsen würde.

Insgesamt bestätigte sich durch die Gespräche mit den Vertretern der deutschen Spieleindustrie die Existenz des eines Zusammenhanges zwischen den untersuchten Ebenen (Konsum, Angebot, Ästhetik und Produktion). Reziproke Beziehungen sahen die Experten insbesondere zwischen dem Spieleangebot und dem Konsum; dem Spieleangebot und der Produktion; dem Konsum und der Produktion bzw. auch dem Spieleangebot.

„Ich glaube ja, also das hängt alles zusammen, definitiv. Also würde es mehr Frauen geben, wäre vielleicht das Bild anders, wie Frauen in den Videospielen dargestellt werden. Das glaube ich schon, das hängt ja alles miteinander zusammen für mich.“ (Experte „T1“)

Mit Blick auf die Zukunft wird vermutet:

„Aber ich glaube, dass wenn mehr Frauen in die Branche streben, wenn kritisch reflektiert wird, wie die Darstellung der Frau im Spiel aussieht und sich innergesellschaftlich insgesamt etwas daran ändert, dass Frauen weniger in technischen Berufen gesehen werden, dann könnte sich insgesamt etwas ändern in der Branche. Aber all das muss wohl zusammenkommen.“ (Experte „T2“)

Zusammenfassend sei an dieser Stelle festgehalten, dass das Thema „Gender und Gaming“ so komplex und vielschichtig ist, dass es eher interdisziplinär erforscht werden sollte. Wenngleich die benannte Untersuchung nicht im Rahmen des vorliegenden Beitrages detaillierter skizziert werden konnte, ist hoffentlich eine erste Annäherung an das Thema gelungen. Ein besonderer Dank an dieser Stelle noch einmal allen Vertretern der Spieleindustrie, die mir bzw. meinem Thema Zeit geschenkt haben – you know who you are!

Dr. Sabine Hahn veröffentlichte ihr Buch „Gender und Gaming. Frauen im Fokus der Games-Industrie“ im Mai 2017 im Transcript Verlag.

Verweise

  1. [1] Infografik der Seite Gameswirtschaft: http://www.gameswirtschaft.de/wirtschaft/games-umsatz-2016-deutschland-vergleich/
  2. [2] Rutter & Bryce. 2005. Understanding Digital Games. S. 302.
  3. [3] Fullerton et al. in Kafai et al. 2008. Beyond Barbie and Mortal Kombat: New Perspectives on Gender and Gaming.  S. 162.
  4. [4] Prescott & Bogg. 2013. The Gendered Identity of Women in the Games Industry. S. 128.
  5. [5] Im Rahmen der Dissertation wurden alle Experten anonymisiert, was auch an dieser Stelle beibehalten werden soll.
  6. [6] Vgl. hierzu meinen Gastbeitrag im Paidia Themen Speical http://www.paidia.de/?p=4749 oder meinen Kommentar auf LinkedIn  https://www.linkedin.com/pulse/die-hälfte-aller-spieler-ist-weiblich-doch-wie-vielfältig-sabine-hahn.
  7. [7] Ein Argument, dass m.E. dringend empirisch untersucht werden sollte.
  8. [8] Ein Argument, dass m.E. so nicht unkritisch reflektiert stehen gelassen werden soll. Innerhalb der Film- bzw. Verlagsbranche als anderen Medienteilmärkten zum Beispiel ist der weibliche Anteil über 40 Prozent. Ob die Games Branche jedoch eher als Tech-Branche oder eher als kreative Medienteilbranche verstanden wird, gleicht einem philosophischen Diskurs.
  9. [9] Weiterführend seit hier auf „Gender und Gaming. Frauen im Fokus der Games-Industrie“ (transcript Verlag) verwiesen.